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Lilly - Kapitel 04
Er erinnerte sich noch genau an diesen Tag. Es war ziemlich heiß gewesen, um die 35 Grad. Gegen 19 Uhr begann die Party, es wurde gegrillt. Als Mark dort ankam, waren erst ein paar wenige Gäste da. Bloß eine Frau und drei Kerle, die sich mit Harald, dem gemeinsamen Freund von Mark und Tanja, unterhielten.
„Ah, Mark, schön dass du kommen konntest.“ Harald kam gut gelaunt auf ihn zu gestürmt und ließ seine Gesprächspartner einfach zurück. Er nahm ihn mit sich und stellte ihn den dreien vor. „Und das ist Tanja Strigninski, sie ist meine Friseuse und eine gute Freundin. Tanja, das ist Mark Jenssen, er studiert Jura im letzten Semester und wird bestimmt mal ein hoch angesehener Anwalt.“ Die Frau war Anfang 20, blond und sehr hübsch. Sie hatte kaum etwas Osteuropäisches an sich, wie man vielleicht nach ihrem Namen urteilen konnte. Auch sie schien von ihm ähnlich angetan zu sein. Sie musterte ihn immerzu und schien ein Gespräch zu wollen.
„Sie sind also Friseuse?“ Kein sehr viel versprechender Beginn für ein Gespräch. Mark, wenn du heute Abend bei dieser Schnitte landen willst, dann solltest du dir was Besseres einfallen lassen, hatte er zu sich selbst gesagt. Doch ihm fiel kaum etwas Besseres ein.
„Ja. Und Sie sind Anwalt. Was machen Sie denn für eine Fachrichtung?“
„Strafverteidiger. Ich vertrete all die ganzen Kleinganoven und jene, die vorgeben keine zu sein.“ Sie lachte. Ein gutes Zeichen. Das anfangs holprige Gespräch kam so langsam etwas in Fahrt. Die beiden jungen Leute begaben sich nach kurzer Zeit zu einer Bank und nahmen sich ein paar Drinks. Mark stellte im Laufe des Gesprächs fest, dass Tanja aus einer großen Familie kam und vier weitere Geschwister hatte, unter anderem eine kleine Schwester, die erst zwei Jahre alt war. Sie hatten nie viel Geld, deswegen war es ihren Eltern auch nicht möglich, Tanja auf eine Universität zu schicken und ihr ein schön teures Studium zu ermöglichen. Ihr großer Bruder, der bereits einunddreißig war, hatte das Glück und wurde Facharzt für Neurochirurgie. Ihre Hobbys waren Malen und Gedichte schreiben, sie musste wohl eine künstlerische Ader haben. Sie meinte, das hätte sie von ihrem Vater geerbt, der zwar ein Atelier besaß und schöne Bilder zu Leinwand brachte, aber das Geschäft lief eher schlecht als recht. Seit Jahren schon gingen die Zahlen langsam zurück. Er konnte sich aber noch gut über Wasser halten und außerdem ging Tanjas Mutter halbtags in einer Bäckerei aushelfen, während die Zweijährige in die Krippe ging. Durch das Geld konnten die Strigninskis sich zwar keinen Luxus leisten, aber das Geld reichte bislang immer aus um die Familie durchzubringen. Manches Mal mussten die Kinder sowie die Eltern einiges zurückstellen, aber es ging ihnen nie schlecht und niemals musste jemand hungrig ins Bett gehen.
Mark fand sie sehr sympathisch. Nach einer knappen Stunde waren sich die beiden so sympathisch, dass sie sich mittlerweile duzten. Die Party wurde auch schon recht gut besucht und beinahe alle Firmenkollegen von Harald waren anwesend. Sogar seine Familie war gekommen. Doch Mark und Tanja ließen sich davon nicht von ihrem Gespräch abhalten und blieben den ganzen Abend auf der Bank sitzen. Tanja wurde irgendwann langsam etwas traurig und wurde ruhiger. Ihr wurde die ganze Sache mit Mark zu vertraut und etwas in ihr hemmte sie, sich ganz auf ihn einzulassen.
„Was ist denn mit dir, Tanja?“ fragte Mark besorgt. „Ich kann doch fühlen, dass dich irgendwas bedrückt.“
„Es ist nur…“, begann sie unsicher. „Ich bin mir nicht sicher, wie weit das noch gehen wird, heute Abend. Ich bin erst seit kurzer Zeit wieder solo.“ Sie senkte den Kopf als schämte sie sich für dieses gute Gespräch oder die Sympathie, die sie Mark entgegen brachte.
„Wenn du nicht drüber reden möchtest…“
„Es ist nur, er hat mich betrogen“, unterbrach sie ihn. Offenbar war ihr doch danach, drüber zu sprechen. „Er hat es mit meiner besten Freundin getrieben, dieser Hund. Ein halbes Jahr lang und ich habe es nicht gemerkt.“
Mark spürte, wie sehr sie das aufregte und wie wenig er wusste, gerecht mit dieser Situation umgehen zu können. Er war froh, als sie wieder zu sprechen begann, alles was er herausbrächte, wäre unangemessen gewesen.
„Ich war so sauer auf ihn. Zusammenziehen wollten wir, heiraten und Kinder kriegen. Den Himmel hat er mir versprochen, aber bekommen habe ich die Hölle. Ich dachte wirklich, ich könnte mit diesem Arsch glücklich werden. Und erst Mareike, diese verlogene Kuh. Hat hinter meinem Rücken mit Tom rumgemacht und mir immer einen vorgeschwärmt, es wäre so ein netter Kerl und ich könnte froh sein, so einen kennen gelernt zu haben. Dass ich so blind gewesen bin, kann ich gar nicht verstehen.“ Sie ballte bereits ihre Hand zur Faust. Wie gerne würde sie beide jetzt vor sich haben und ihnen eine runterhauen. Mark war sichtlich erstaunt über ihre Wut, konnte sie aber auch gut nachvollziehen. Sah wohl nicht so aus, dass heute Abend etwas laufen würde, kam es ihm in den Sinn. Gespräche über den Ex waren immer der Killer einer netten kleinen Romanze. Aber das mochte ihn gerade nicht so interessieren. Sonst war ihm immer nach einer schnellen Nummer gelegen, doch bei Tanja war es irgendwie anders. Lag es daran, dass er sich normalerweise nicht so intensiv mit Frauen unterhielt, oder an ihrer besonderen Art? Tanja war irgendwie anmutiger und graziöser als all die anderen Frauen in seinem Leben zuvor. Die Art wie sie ihr Haar aus dem Gesicht strich, das Lecken mit der Zunge über ihre Lippen, so sachte und vorsichtig, als könne man dabei etwas falsch machen. Es machte ihn verrückt nach ihr. Er musste sie einfach ständig immer wieder von Kopf bis Fuß ansehen, als würde er sich am kommenden Morgen nicht mehr an sie erinnern können. Es gab nur eine Erklärung für sein seltsames Empfinden: er war verliebt!
Sie sprach noch immer über ihren Hass auf ihren Exfreund und ihre ehemals beste Freundin, aber er konnte ihr nicht mehr folgen. Er hatte nur noch Augen und Ohren für ihre Schönheit und den Klang ihrer Stimme, ohne die damit gesprochenen Worte zu erfassen. Sogar wenn sie wutentbrannt über andere herzog, war ihre Stimme noch lieblich und hinreißend. Es war um ihn geschehen, ab heute gab es keine Affären und One-Night-Stands mehr, nur noch Tanja. Er musste es schaffen, dass sie das ähnlich sah und sie wieder sehen.
„Ach weißte, lass uns nicht mehr von ihnen sprechen, sonst rege ich mich womöglich noch auf“, meinte Tanja irgendwann knapp. Mark fing kurz an aufzulachen. „Was ist?“ Tanja verstand es zuerst nicht.
„Sag bloß nicht, ich habe mich schon aufgeregt. Ich merke das manchmal nicht, wenn ich voller Temperament losquassele.“
„Das macht doch nichts.“
Sie schwiegen für einen Moment. Er sah sie verschüchtert an, wie ein Zwölfjähriger, der das erste Mal verliebt war sich aber nicht traute, seiner Angebeteten gegenüber zu treten. Sie fing diesen Blick auf und verstand ihn, denn sie warf ihm einen ähnlichen Blick zu, konnte ihn aber besser verstecken.
„Tanja, ich… ich meine…“ Nur nicht anfangen zu stammeln. Mark musste sich selber ermahnen, nicht in kindlicher Weise mit einer erwachsenen Frau zu sprechen. Er selber war auch erwachsen, wieso fiel es ihm nur so schwer, ein paar einfache Worte zu sagen.
„Wir sollten uns mal auf einen Kaffee treffen oder ins Kino gehen“, fiel sie ihm ins Wort. Insgeheim dankte er ihr sehr für diesen Einwurf. Wer weiß ob er in den nächsten fünf Minuten oder zehn Jahren dazu in der Lage gewesen wäre. Sie machten einen Termin für kommenden Freitag zum Kino aus und tauschten ihre Telefonnummern aus. Sie bemerkten gar nicht, dass die Party sich ihrem Ende neigte. Es war bereits viertel vor zwölf. Seit beinahe fünf Stunden saßen sie auf dieser wirklich unbequemen Holzbank, die stark wackelte und verquatschten sich in einer Vielzahl von Themen. Er wusste jetzt einiges über ihre familiären Verhältnisse, über ihre schmerzliche Trennung von ihrem Ex, mit dem sie fast drei Jahre liiert war und dass sie als Mädchen oft im Krankenhaus war, weil sie sich laufend verletzte. Immer wieder fiel sie vom Fahrrad oder musste von Klassenfahrten abgeholt werden, weil sie sich ungeschickt in eine Badeanstalt von der Wasserrutsche abrollte und sich dabei das Knie aufriss. Und sie hingegen wusste auch viel von ihm. Zum Beispiel, dass sein Vater ebenfalls Anwalt war und Mark schon als kleiner Bursche in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte. Später hatte er immer wieder leidenschaftliche Kurzbeziehungen zu Mädchen und Frauen, obwohl er scheinbar ein Spätzünder war. Mark war Einzelkind, sehr im Kontrast zu Tanja, die in einem Haus mit vielen Geschwistern aufwuchs, in dem sogar die Großeltern eine Etage für sich hatten. Durch seinen Vater, der mit seinem Beruf eine Menge Geld verdiente, hatte Mark eine sehr angenehme Kindheit und bekam oft, was er sich wünschte. Er machte seinen Vater ziemlich stolz, als er ebenfalls Anwalt werden wollte und der war sofort dabei, die Anmeldung für die Uni fertig zu machen und die Studiengebühren zu entrichten. Obwohl er immer beteuerte, dass es ihm gleich wäre, welchen Beruf Mark einmal ergreifen würde, er wäre immer stolz auf ihn, wusste er, dass seine Entscheidung Anwalt zu werden ihn erst so richtig stolz machte. Tatsächlich wollte Mark es selber und tat es nicht nur seinem Vater zuliebe.
„Tja, meine Hilde und ich waren auch ein Herz und eine Seele“, sprach der Mann mit der Zigarette im Mundwinkel nachdenklich. Er wünschte sich gerade nichts sehnlicher, als mit seiner gesunden Hilde zurück auf den Berg zu gehen und einen Stern nach ihr zu benennen. Mark schüttelte symbolisch den Kopf, als wollte er seine Gedanken an die Vergangenheit abschütteln, um wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Der Mann hatte sich mittlerweile eine zweite Zigarette angezündet. Ein Kettenraucher war er wohl auch geworden, dachte Mark. Ganz schön ironisch. Das hatte schon fast den Charakter eines Monty Python-Films, der vor schwarzem Humor nur so strotzte. Ein Mann, der aufgrund seiner an Lungenkrebs erkrankten Frau zum Kettenraucher wurde, hatte echt Potenzial für eine weitere Farce des Lebens.
„Ich denke, ich werde mal wieder nach meiner Kleinen sehen“, sagte Mark nach einem stillen Moment. Es fröstelte ihm auch etwas, jetzt wo er sich nicht mehr in der wärmenden Erinnerung an diesen Juli-Abend vor elf Jahren befand.
„Jo. Vielen Dank für das nette Gespräch. Vielleicht sieht man sich ja mal irgendwann“, nuschelte der Kerl an seiner Zigarette vorbei.
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For I dipt into the Future, far as human Eye could see,
Saw the Vision of the World and all the Wonder that would be.
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