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Geschrieben von Stefan Steinmetz am 04.08.2017 um 14:37:

Das Lehm(12)

Die Dorfglocke schlug an. Bürgermeister Prick Holfer rief die Nachricht aus: „Die Lehma kommt! Die Lehma besucht Lehmborn! Die Lehma beehrt uns mit ihrem Besuch!“
Die Leute verließen ihre Häuser. Sie standen auf den Plätzen davor und sahen der Prozession, die ins Dorf kam, mit gemischten Gefühlen entgegen.
Themas war bei seinem Freund Mirkus im Garten, als die Glocke die Ankunft der Lehma meldete. Er lief nach Hause. Er fand seine Eltern vorm Haus vor. Seine Mutter umarmte ihn stumm. Er sah die Furcht in ihren Augen. Er wusste, warum sie Angst hatte. Jeder wusste es. Die Lehma war gekommen, um eine Gabe für das Lehm auszuwählen.
Themas sah die Straße hinauf. Oben auf dem Hügel drehten sich die Flügel der Windmühle. Gerade kam Trischas Vater Hobert zur Tür heraus. Er begab sich eilig zum Haus der Familie Banbirk, das schräg gegenüber von Irrluchts Haus stand. Dort warteten bereits seine Frau Jemphie und seine Tochter Trischa.
Themas sah die Angst in den Augen von Trischas Eltern. Auch Trischa fürchtete sich. Die Lehma kam! Jedermann wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie würde eine Gabe auswählen – eine Gabe an das Lehm. Eines der Kinder, die unter den Treppen eingesperrt waren, würde dem Lehm geopfert werden.
Wie hatte Trischa noch gesagt? „Es wird Extra-Gaben verlangen. Mehr als nur eine Gabe!“
Themas spürte, wie ihm ein kalter Schauder den Rücken hinunter lief. Er dachte an seinen Bruder Thimas, der kurz davor stand, die Altersgrenze zu erreichen. Würde Grutie Umpfbeetl ihn erwählen?
Bitte nicht!, betete Themas in Gedanken. Bitte nimm mir nicht meinen Bruder weg, wo ich ihn doch gerade erst kennengelernt habe!
Die Lehma kam die Dorfstraße herauf. Sämtliche Lehmpriester folgten ihr. Zwei von ihnen trugen zusätzlich zu ihren kleinen Rucksäcken das Gepäck der Lehma. Grutie Umpfbeetl belastete sich nicht mit solchen Sachen. Hinter den Priestern schritten Leute. Es waren die Glücklichen, an deren Häusern Grutie Umpfbeetl bereits vorbeigegangen war, ohne eins „derer-unter-den-Treppen“ ausgewählt zu haben. Themas sah seinen Freund Mirkus mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Hurckie unter den Menschen, die der Lehma folgten. Hurckie klammerte sich an die Hand ihrer Mutter. Er erkannte die Erleichterung in den Augen der Familie Karmeck.
Du hast es gut, Mirkus, dachte Themas. Hurckies Zweitling ist nicht erwählt worden.
Die kleine Lehma wanderte über Straßen und Plätze. Sie wirkte konzentriert, als lausche sie angestrengt nach innen.
Schau!, dachte Themas. Die kleine Zicke macht doch bloß Schau! Nie im Leben spricht das Lehm zu ihr! Keiner kann das Lehm hören!
Doch dann betrachtete er das Haar des Mädchens. Es war rötlichbraun. Es hatte exakt die gleiche Farbe wie Lehm. Früher war Grutie Umpfbeetl blond gewesen. Ihr Haar hatte die Farbe reifen Weizens gehabt. Nachdem das Lehm sie erwählt hatte, war ihr Haar innerhalb weniger Wochen lehmfarbig geworden. Auch die Haare von Bescha Birkendruff, der alten Lehma, waren lehmfarbig gewesen.
Plötzlich fuhr Grutie herum. Sie visierte ihn mit ihren stechenden Augen an. Themas schluckte. Es war, als hätte sie seine rebellischen Gedanken gehört. Der Blick der kleinen Lehma gefiel ihm nicht. Es war nicht gut, die Aufmerksamkeit Grutie Umpfbeetls zu wecken. Das Mädchen liebte es, die Menschen zu gängeln und ihnen Befehle zu geben. Er dachte an Thimas unter der Treppe.
Bitte nicht Thimas!, dachte er. Sie soll weitergehen! Sie soll jemand anderen aussuchen!
Er schämte sich für seinen Wunsch, aber er konnte nicht anders.
Grutie wandte den Blick ab. Sie ging mit ihren kleinen, zierlichen Schritten über den Sand. Es sah aus, als überdenke sie jeden einzelnen Schritt, den sie machte. Sie war schon am Haus der Badins vorbei, als sie abrupt stehen blieb und sich umdrehte. Helder und Keldry Badin hielten den Atem an. Sie hatten bereits einen Zweitling ans Lehm verloren, den Bruder ihres Sohnes Lupit. Nun hockte nur noch die Zwillingsschwester ihrer achtjährigen Tochter Muline unter der Treppe. Die Badins hatten einige Jahre lang einen Sonderfall dargestellt, hatten sie doch gleich zwei von „denen-unter-der-Treppe“. Das gab es so gut wie nie.
Themas sah die Angst in den Augen von Keldry Badin. Die Frau fürchtete den Spruch der Lehma. Grutie Umpfbeetl konnte ihr mit einer Handbewegung auch noch das zweite Kind unter der Treppe wegnehmen.
Sie tat es. Sie blieb vor den Badins stehen und hob die Arme: „Höret, was das Lehm verkündet hat! Das Lehm erbittet eine Gabe von uns. Die Badins haben die Ehre, die Gabe zu spenden.“
Keldry gab ein trockenes Schluchzen von sich. Ihr Mann presste sie an sich, sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren. „So soll es sein“, sagte er. Seine Stimme bebte verdächtig. Die kleine Muline verbarg ihr Gesicht in den Rockschößen ihrer Mutter. Themas erkannte, dass sie weinte.
Grutie Umpfbeetl focht das nicht an. Sie wandte sich an die umstehenden Leute: „Das Lehm hat einen großen Verlust erlitten. Ein großer Schmerz kam über das Lehm. Es dankt euch für eure Gabe. Vielleicht möchte es sogar um eine zweite Gabe bitten.“
Also doch!, dachte Themas. Genau wie Trischa sagte! Diesmal müssen zwei Kinder sterben! Verfluchtes Lehm! Verfluchte Lehma! Warum gehst du nicht selbst ins Lehm, Grutie Umpfbeetl?
Er sah die Verzweiflung in den Augen der Menschen. Er fühlte ohnmächtige Wut. Was sich hier abspielte, war nicht richtig. Er war erst vierzehn, aber er wusste, dass er Recht hatte.
Die kleine Lehma drehte sich um. Sie schaute Themas direkt in die Augen. Er fühlte sich unwohl unter diesem Blick. Grutie setzte sich in Bewegung. Sie kam genau auf ihn zu.
Oh nein!, dachte Themas. Bitte nicht! Ich bringe ihm doch gerade Lesen bei! Er sah die Lehma auf sich zukommen. Mit nackten Füßen schritt sie über den Sand. Die schweren Eisenketten an ihren Knöcheln klirrten leise.
Themas wurde übel bei dem Gedanken, dass dieses verzogene kleine Ding in der Lage war, über erwachsene Menschen zu herrschen. Sie konnte ihm den Bruder nehmen, einfach aus einer Laune heraus. Mit dem Willen des Lehms musste das nichts zu tun haben. Grutie konnte tun, was sie wollte. Niemand gebot ihr Einhalt. Weil es niemand wagte. Alle hatten Angst vor dem hochnäsigen Biest.
Grutie blieb genau vor Themas stehen. Sein Magen zog sich zu einem kleinen, heißen Ball zusammen. „Themas Irrlucht“, sprach die Lehma mit ihrer dünnen, erstaunlich weittragenden Kinderstimme. „Ich kenne dich. Du hast bei den Fischern in Lehmingen am Mittensee gelernt, wie man Krebsreusen flicht. Man teilte mir mit, dass du dich äußerst geschickt angestellt hast.“ Sie tat, als denke sie angestrengt nach.
Das Herz von Themas verkrampfte sich schmerzlich. Jetzt wählt sie Thimas! Oh bitte nicht!
Grutie wandte sich ab. „Das Lehm spricht zu mir“, verkündete sie. Sie schritt über den Sandplatz zu den Banbirks hinüber. Themas hatte keine Zeit, aufzuatmen. Er sah den Schrecken in den Augen von Trischa und ihren Eltern. Grutie Umpfbeetl ging zu Trischa. Sie sah sie an. „Trischa Banbirk“, sagte sie. Trischa schaffte es nicht, die Angst in ihrem Gesicht zu unterdrücken. Man sah, dass sie sich fürchtete. Die kleine Lehma schien es zu genießen. Sie liebte die Macht über die Menschen im Lehm. Unter halb gesenkten Lidern betrachtete sie Trischas Vater und Mutter.
„Ihr nicht“, sprach sie. „Noch nicht. Aber bald. Das Lehm hat es mir gesagt.“ Sie wandte sich ab und schritt weiter die Straße hinauf.
Themas atmete auf. Die schmerzhafte Verkrampfung seines Herzens löste sich. Grutie Umpfbeetl suchte sich ein anderes Opfer. Eine Weile hatte es so ausgesehen, als wüsste die kleine Lehma Bescheid über die rebellischen Reden, die er mit Trischa Banbirk führte. Themas hatte wahnsinnige Angst gehabt. Im Nachhinein hasste er sich für seine Angst, aber sie war da gewesen.
Er setzte sich in Bewegung und folgte seinen Eltern, die sich der Prozession angeschlossen hatten. So war es Sitte. Man folgte der Lehma auf ihrem Weg durchs Dorf.
Grutie lief hierhin und dorthin. Sie verbreitete Angst und Schrecken bei den Menschen, die vor ihren Häusern standen und hilflos auf ihr Urteil warteten. Oft ging das Mädchen zu einem Menschen und blieb direkt vor ihm stehen, um ihn mit stechenden Augen anzublicken. Die Angst, die überm Dorf lag, war beinahe mit Händen greifbar.
Irgendwann waren alle Dorfstraßen abgeschritten. Keine zweite Gabe war erwählt worden. Schon wollten die Menschen aufatmen, da hielt Grutie mitten auf einem Platz inne. Sie stand mit geschlossenen Augen da. Ihre bloßen Füße begannen, im Boden zu versinken. Alle hielten den Atem an.
Grutie öffnete die Augen. „Es ist noch eine Gabe zu bestimmen“, rief sie.
Die Leute stöhnten unhörbar. Also doch!
Grutie zog die Füße aus dem Boden und ging weiter. Sie lief den Weg, den sie gekommen war, zurück. Die Priester folgten ihr wie treue Hunde.
Das macht sie mit Absicht!, dachte Themas. Um den Menschen Angst einzujagen. Um sich an ihrer Macht über uns zu weiden. Die miese, kleine Kröte!
Doch auch das Lehm konnte dahinter stecken. War nicht auch das Lehm rachsüchtig?
Mit einem flauen Gefühl im Magen beobachtete Themas, wie die Lehma in den Weg einbog, der zu seinem Elternhaus führte. Grutie drehte den Kopf und schaute ihn einen Augenblick an.
Spielte etwa ein kleines Lächeln um ihre Mundwinkel?
Jemand trat neben ihn, fasste seine Hand und drückte sie. Es war Trischa. Er warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sie folgten der Lehma und den Priestern. Als sie am Haus der Familie Banbirk vorbei kamen, warf Grutie einen Blick in das Verlies unter der Treppe. Trischas Hand krallte sich in der von Themas fest. Er sah, wie das Mädchen dort unten hinter dem Eisengitter zurückwich, bis es mit den Schultern gegen die Rückwand seines Kerkers prallte.
Grutie wandte sich ab. Sie ging weiter. Vorm Haus der Irrluchts blieb sie stehen. Auch dort schaute sie ins Verlies hinein. Themas zog scharf die Luft ein. Was, wenn das fiese kleine Ding seinen Bruder wählte? Die Angst kam zurück. Wie ein unsichtbares Raubtier fiel sie ihn an. Er konnte nicht verhindern, dass er anfing zu zittern. Seine Mutter schlug eine Hand vor den Mund.
„Nein. Du bist es nicht“, sprach die Lehma. Sie ging weiter. Themas wurde es vor Erleichterung flau im Magen.
Grutie Umpfbeetl schritt weiter durchs Dorf. Schließlich entschied sich sich für die Familie Karmeck. Themas sah seinen Freund Mirkus zusammenzucken, als „das-unter-der-Treppe“ seiner Familie erwählt wurde, der Zweitling seiner neunjährigen Schwester Hurckie.
Mieses Biest!, dachte er. Er hätte Grutie Umpfbeetl am liebsten gepackt und geschüttelt. Läuft kreuz und quer durchs Dorf, und genießt ihre Tour des Schreckens. Was für ein ekelhaftes Biest!
Im gleichen Moment fiel der Blick der kleinen Lehma auf ihn. Themas erschrak. Hatte sie gesehen, dass er wütend war? Hatte er sein Gesicht nicht genügend unter Kontrolle gehabt? Ihm wurde heiß.
„Zwei Gaben hat das Lehm durch meinen Mund von euch erbeten“, verkündete Grutie. „Es hat mir mitgeteilt, dass es morgen noch einmal zu mir sprechen möchte. Ich werde in Lehmborn übernachten.“
Die Leute sahen einander mit blanker Verzweiflung an. Das konnte nur eines bedeuten: Das Lehm würde am nächsten Tag noch ein drittes Opfer verlangen!

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