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Das Lehm(16)
Die Eltern waren auf der Bürgerversammlung. Themas saß vor dem Verlies seines Zwillingsbruders. Er erzählte Thimas vom Sommerfest – auch von Mirkus und dem seltsamen Verhalten von Mook Orpek. Themas war immer noch hin und hergerissen. Er wusste nicht, ob er dem obersten Lehmpriester trauen sollte oder nicht.
„Mirkus hat gesagt, Mook wollte versuchen, uns dazu zu bringen, uns zu verraten und uns die Schlinge selbst um den Hals zu legen. Aber Mook sah ehrlich aus, als er uns sagte, er könne das Ritual auch nicht leiden. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“
„Vielleicht stimmt es“, sagte Thimas. „Vielleicht würde der Mann sogar gerne mit den Opferungen aufhören. Aber das geht nicht. Das Lehm würde die Menschen vernichten. Nur eine Flucht würde helfen, doch auch das würde das Lehm verhindern. Wir alle sind Gefangene des Lehms.“
„Ja“, sagte Themas düster. „Das Lehm ist böse und grausam. Es hat sogar zugelassen, dass ein Horro mitten im Lehm neben der Dammstraße lauerte. Um ein Haar hätte das Vieh Trischa getötet.“ Er erzählte seinem Zwilling, wie er den Sandhund erlegt hatte und dass das Lob der Menschen an ihm abgeperlt war.
„Mir war das gleich“, meinte er. „Mich interessierte nur, dass Trischa nichts passiert ist.“
„Du magst sie“, stellte sein Bruder fest.
„Ja“, sagte Themas. „Sehr.“
„Am nächsten Samstag geht wieder eine Karawane nach Landsweiler“, meine Thimas. „Kaufst du ihr wieder eine Tüte Bonbons?“
Themas nickte. „Und dir auch.“ Er stand auf: „Ich muss ins Haus. Die Eltern kommen gleich.“
„Schau dir die Lokomotiven an und erzähle mir davon“, kam es aus dem Verlies unter der Treppe. „Ich liebe es, davon zu hören.“
„Mach ich“, versprach Themas.
*
Themas spazierte die Hauptstraße in Landsweiler entlang. Er hatte seinen Rötel verkauft und wollte zum Bahnhof, um die Lokomotiven anzuschauen, damit er seinem Bruder davon erzählen konnte.
Vielleicht sollte ich meinen Zeichenblock und Stifte mitbringen, wenn ich das nächste Mal ins Draußen komme, überlegte er. Dann könnte ich Bilder für Thimas zeichnen. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Zu dumm, dass mir das jetzt erst einfällt. Wer weiß, ob er noch lebt, wenn ich das nächste mal mit der Karawane ins Draußen ziehe.
Der Gedanke schnitt wie ein Messer durch sein Herz. Dass sein Bruder bald dem Lehm geopfert werden sollte, verursachte ein schlimmes Ziehen in seinem Innern. Es tat weh, daran zu denken. Trischa ging es nicht anders.
Themas musste an seinen Freund Mirkus denken und an dessen Schwester Hurckie. „Sie ist kaputt“, hatte Mirkus gesagt. „Das Lehm hat sie kaputt gemacht.“
Würde er auch so kaputt sein, nachdem Thimas tot war?
Während er an den Geschäften vorbei spazierte, schaute Themas sich vorsichtig um, ob ihm jemand folgte. Tatsächlich erkannte er nach einiger Zeit Homil Perker und Jindrich Lebug aus Lehmtal, gespiegelt in der Scheibe eines Haushaltswarenladens. Sie spitzten aus einer Seitengasse hervor und beobachteten ihn. Es war kein schönes Gefühl, zu wissen, dass man belauert wurde. Die zwei Männer würden ihn schnappen, wenn er versuchte, abzuhauen.
Themas kam beim Bahnhof an. Gerade fuhr ein Personenzug ab – fünf kleine Waggons, gezogen von einer kleinen dreiachsigen Dampflok. Die Lokomotive war dunkelrot lackiert und hatte Kesselbänder aus funkelndem Messing.
Personenzüglein3 by Stefan Steinmetz, auf Flickr
Was wäre, wenn ich mir unauffällig eine Fahrkarte kaufe und im allerletzten Moment in einen Zug einsteige, der weg fährt?, überlegte Themas. Er schaute sich um. Die beiden Verfolger waren nicht zu sehen, aber er war sich sicher, dass sie irgendwo in der Nähe lauerten. Der kleine Zug schnaufte hurtig von dannen. Den konnte jemand zu Fuß kaum verfolgen. Auf die Art könnte ich entwischen. Doch dann könnte ich Thimas nicht mitnehmen. Der darf ja nicht aus seinem Kerker. Mist! Und ich weiß nicht mal, wo der Schlüssel zum Verlies ist. Ohne Schlüssel kann ich nichts unternehmen.
Und Trischa? Was ist mit der?
Würde Trischa mitkommen, wenn er aus dem Lehm floh? Er beschloss, demnächst mit dem Mädchen zu sprechen. Er konnte Trischa vertrauen. Der Gedanke, mit dem Mädchen im Draußen zusammenzuleben, gefiel Themas außerordentlich.
Aus dem Südosten kam ein Zug zum Bahnhof. Eine Garrattlokomotive zog eine endlose Reihe leerer Holzwaggons hinter sich her. Die Lok war dunkelblau lackiert. Themas erinnerte sich an die Erklärungen des freundlichen Eisenbahners, den er bei seinem letzten Besuch getroffen hatte. Der hatte ihm erklärt, dass die Lokomotiven in den unterschiedlichsten Farben lackiert waren, weil sie meist zu Privatbahnen gehörten und da hatte jede kleine Gesellschaft ihre eigne Farbkombination für ihre Loks. Es gab die schweren Garratts in dunkelrot, dunkelblau, hellem und dunklem Grün und in Kastanienbraun.
Sie waren extra für die kurvigen Schmalspurstrecken gebaut worden. Der Kessel ruhte mitsamt Feuerbüchse auf einem Rahmen und vorne und hinten hatten diese Loks je ein Triebwerk. Dadurch hatten sie einen tiefliegenden Schwerpunkt und eine unglaubliche Kurvengängigkeit.
SchwarzeGarratt1 by Stefan Steinmetz, auf Flickr
RoteGarratt6 by Stefan Steinmetz, auf Flickr
BlaueGarratt2 by Stefan Steinmetz, auf Flickr
Themas setzte sich auf eine Bank und schaute den Zügen zu. Er versuchte, sich so viel Einzelheiten zu merken wie nur möglich, um seinem Bruder davon zu erzählen.
Zu dumm, dass ich nicht an meine Zeichensachen gedacht habe, dachte er. Vielleicht gibt es Postkarten?
Er stand auf und ging in den Bahnhof. Auf seine Frage verneinte der Schalterbeamte. „Aber in der Hauptstraße hat es ein Schreibwarengeschäft“, sagte er. „Die haben alle Arten von Postkarten, auch welche mit Loks drauf. Es gibt sie sogar als Farblithographien.“
Themas bedankte sich. Er verließ den Bahnhof und wanderte in aller Ruhe die Hauptstraße hinunter. Bald sah er seine beiden Verfolger wieder.
Nachdem Themas zwei Tüten Bonbons gekauft hatte, eine für Trischa und eine für Thimas, ging er ins Schreibwarengeschäft. Tatsächlich hatten sie Postkarten von Lokomotiven. Es gab Schwarz-Weiß-Fotografien und Farbpostkarten. Er kaufte gleich ein ganzes Dutzend. Für seinen Zwillingsbruder war ihm nichts zu teuer.
Draußen stellte er sich ans Schaufenster, um zu schauen, ob Jindrich und Homil ihn immer noch verfolgten. Gleich neben dem Laden zweigte eine enge Seitengasse ab.
Plötzlich hörte er, wie jemand leise seinen Namen rief. „Themas?“
Er wollte herumfahren, da warnte ihn die Stimme: „Nicht umdrehen! Schau dich nicht um! Du wirst beobachtet! Wenn die merken, dass du auf etwas aufmerksam wurdest, werden sie misstrauisch. Steh einfach still und tu so, als ob du die Auslagen anschaust.“
Themas hatte heftiges Herzklopfen. „Tante Brilla!“, sagte er leise. Sie war es wirklich. Er hatte ihre Stimme erkannt. „Mensch, Tante Brilla! Ich würde dich so gerne umarmen!“
„Denk nicht mal dran!“, kam es aus der Seitengasse. „Benimm dich unauffällig!“
„Letztes Mal war Onkel Jidler hier“, sagte Themas. „Stimmts?“
„Er ist auch jetzt hier. Wir kommen immer beide, wenn die Karawane sich nach Landsweiler aufmacht. Zu Hause passt jemand auf unsere Kleinen auf. Wir leben in Rodental, achtzig Kilometer von hier. Es ist eine Kleinstadt, die an einem See mitten in den Ostwäldern liegt. Wir haben ein gutes Leben. Jidler arbeitet als Bronzegießer, denn es gibt dort Kupfer und Zinn. Momentan steht er ein paar Meter hinter mir und beobachtet die Hintergassen.
Themas? Habt ihr das Heft gefunden, das wir auf eurem Dachboden deponiert haben?“
„Keine Ahnung“, sagte Themas. Er brachte sein Gesicht ganz nahe an die Schaufensterscheibe und beschattete es mit der Hand, um besser hindurch schauen zu können. Jedenfalls tat er so. In Wirklichkeit sah er überhaupt nichts. Tante Brilla! Seine geliebte Tante war hier! Er musste nur zwei Schritte machen, um sie zu umarmen.
„Ich habe es unter die Wintersachen gesteckt“, sagte die Tante. „Ganz unten unter die Strickjacken. Es war ein Notizblatt drin, auf dem stand: Wenn ihr Interesse an einer Flucht habt, kommt in Landsweiler an den oder den Punkt. Dann geben wir euch Informationen, wie es gelingt. Als du allein gekommen bist, wussten wir nicht recht, ob ihr Bescheid wisst.“
„Wir haben kein Heft gefunden“, sagte Themas.
„Wer weiß?“, sagte die Tante. „Vielleicht hat deine Mutter es entdeckt und weggeworfen, aus Angst, es könnte rauskommen. Für den Besitz dieses Heftes kann man vors Lehmgericht gestellt werden.“
„Oder sie hat es wirklich nicht gefunden“, meinte Themas. „Ich werde das überprüfen, wenn ich nach Hause komme.“
„Pass auf, Themas, ich habe hier für dich ein neues Heft. Darin findest du viele wertvolle Informationen über das Lehm. Ich lege es auf einen kleinen Steinsockel direkt um die Ecke. Tu so, als müsstest du deine Schuhe binden und stecke es unauffällig ein.“
Themas tat, als mache er ein paar Schritte zum nächsten Laden auf der anderen Seite der Gasse, die in die Hauptstraße einmündete. Er schaute auf seine Füße und bückte sich. Direkt vor sich sah er ein kleines Heft auf einem Steinsockel liegen. Während er so tat, als binde er seine Schuhe, steckte er es unter seine Kleidung.
Als er aufstand, sah er seine Tante in zwei Metern Entfernung stehen. Er musste all seine Beherrschung aufwenden, um ihr nicht um den Hals zu fallen.
„Tante!“, flüsterte er.
„Lies das Heft“, sagte Brilla. „Wir haben ein schönes und freies Leben in Rodental. Wenn du das Lehm verlassen möchtest, helfen wir dir. Wir werden nächsten Vollmond wieder in Landsweiler sein. Sag deinen Eltern nichts. Sie könnten dich melden. Es ist hart, Themas, aber wenn du fliehst, lass nur ein Heft für sie zurück und sie können dann selbst entscheiden, ob sie dir folgen wollen.“
„Ich will auf alle Fälle das Lehm verlassen“, begann Themas. „Aber ich gehe nicht, ohne ...“
„Achtung!“, rief es vom Ende der Gasse. „Sie kommen! Sie schleichen sich von hinten an! Sag ihm, er soll abhauen und wir beide müssen uns ebenfalls sofort verdünnisieren!“
„Themas, geh!“, sagte seine Tante. „Man darf uns nicht zusammen sehen! Geh! Rasch!“
„Aber ...“, setzte Themas an.
„Geh!“, rief seine Tante. Sie drehte sich um und lief zu ihrem Mann, der am hinteren Ende der Gasse um eine Ecke spähte.
Themas ging zur Hauptstraße zurück. Er schlenderte an den Läden vorbei und betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern. Ihm schlug das Herz. Tante Brilla! Und Onkel Jidler! Er hatte seinen Onkel erkannt, auch wenn er fast zwanzig Meter von ihm entfernt gestanden hatte.
Er fühlte das Heft an seiner Brust. Am liebsten hätte er es hervor geholt und auf der Stelle gelesen.
Den ganzen Weg nach Hause ins Lehm brannte das Heft an seiner Brust. Themas hatte das Gefühl, dass jeder ihm ansehen konnte, dass er etwas Verbotenes mit sich herumtrug. Er wartete darauf, dass Mook Orpek ihn auf die Begegnung mit seiner Tante ansprach.
Solange sie draußen waren, geschah nichts. Doch kaum waren sie zurück im Lehm, kam der oberste Priester zu ihm: „Themas?“
Themas erschrak. Jetzt war er reif. Der Priester würde ihn auffordern, das Heft hervor zu holen. Man würde ihn des Verrats am Lehm bezichtigen. Man würde ihn vors Lehmgericht stellen. Man würde ihn aburteilen. Man würde ihn ins Lehm schicken! Wie die Zweitlinge!
Er schaute den Priester an. Mook lächelte freundlich. Er sah nicht aus wie einer, der gerade einen Missetäter überführen wollte.
„Wie war es draußen?“, wollte Mook wissen. „Hast du dir wieder vieles angeschaut?“
Themas atmete auf. Mook Orpek wusste nichts von dem Heft in unter seiner Kleidung. Er nickte eifrig: „Ja, ich war wieder am Bahnhof. Diese riesigen Kolosse von Lokomotiven faszinieren mich. Man stelle sich vor: Sie holen all ihre Kraft auf simplem Dampf! Ich frage mich, ob man eine solche Bahn im Lehm bauen könnte – natürlich aus Bronze.“ Er lachte. „Aber das geht wohl nicht. Das Lehm verändert sich ständig. Wo heute noch bronzene Schienen liegen, kann morgen ein bodenloser Sumpf sein, der alles verschlingt.“
Mook Orpek stimmte in Themas´ Lachen ein. „Hast du wieder Bonbons für deine kleine Freundin gekauft?“
„Sogar zwei Tütchen“, antwortete Themas. Er tat, als wäre er schuldbewusst. „Weil … die kleinen Dinger schmecken so gut, da wollte ich diesmal auch welche für mich.“
Mook grinste: „Schon in Ordnung, Junge. Du brauchst nicht immer nur an andere zu denken. Gönn dir ruhig eine Kleinigkeit. Hat man dich gut bezahlt?“
„Ja“, sagte Themas. „Die sagen, mein Rötel sei von ausgesucht guter Qualität. Ich habe halt ein Auge dafür. Ich kann einem Hügel im Lehm ansehen, ob besonders feiner Rötel drinsteckt. Gleich morgen gehe ich wieder los und suche welchen. Den besten findet man meist mitten in einem Knorrengebüsch.“
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