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Wenn der Rote Hahn kräht(7)
Am nächsten Tag kam Arno Brill vorbei. Der Architekt sah sich den alten Hof an und besprach mit Pascal, was zu tun war, um das Haus wieder in Schuss zu bringen.
„Eine gute Idee“, meinte Brill, als Pascal ihm erklärte, dass er im Bauernhaus leben wollte. „Das Herrenhaus ist doch viel zu groß für eine einzelne Person. Das ist kein Haus, das ist ein Schloss.“
Sie gingen durch die Räume und Brill sah sich alles genau an. „Viele der alten Möbel sind noch gut in Schuss. Muss man nur mal sauber machen. Das sind teilweise richtige Antiquitäten. Ich würde Ihnen empfehlen, sie zu behalten. Sie geben dem Haus Charakter.“
Pascal war es zufrieden. Der Architekt machte sich Notizen.
Er ging mit Pascal zu dem Anbau, der den Hof von oben aussehen ließ wie ein großes L. „Hier könnten Sie ihre Bibliothek einrichten, Herr Hennes. Sehen Sie nur, wieviel Platz hier ist.“ Er betrachtete den Fußboden. Er war mit poliertem Holzparkett belegt. „Man müsste vielleicht von unten Stützstempel unterstellen. Ich weiß nicht, ob diese Decke das Gewicht von hunderten Büchern aushält. Bücher sind verdammt schwer. Lassen Sie uns in den Keller gehen und nachsehen.“
Der Keller hatte einen Boden aus gestampftem Lehm. „Gut für Vorratshaltung“, meinte Brill. „Aber wenn Sie tatsächlich eine Bibliothek im Anbau einrichten wollen, wie Sie mir am Telefon gesagt haben, müssen wir unter den Räumen ein Fundament anlegen und Stützstempel aufstellen. Man kann das so machen, dass Sie zwischen den Stempeln Regale aufstellen können, um Verschiedenes zu lagern.“
„Klingt gescheit“, sagte Pascal. „Ich möchte nicht, dass mir der Boden unter den Füßen wegbricht.“ Er schaute sich in den Kellerräumen um. Viel zu sehen gab es nicht. Der gesamte Keller war anscheinend vor Jahren leergeräumt worden.
Er ließ Brill im Keller unterm Anbau zurück und stromerte durch die anderen Kellerräume. Licht kam von funzeligen Schiffsarmaturen an der Decke.
Hier sollten mal LED-Lampen rein, überlegte er. Erstens ist es dann hell genug, um etwas zu sehen und zweitens verbrauchen Diodenlampen viel weniger Strom.
Im hintersten Kellerraum stieß er auf etwas Ungewöhnliches. Er trat näher zu der hintersten Wand. „Nanu?“ Er berührte die Wand. „Ist hier etwas zugemauert worden?“ Die Wand bestand aus massiven Sandsteinblöcken, aber direkt vor ihm gab es einen Bereich aus gemauerten Ziegeln. Die Stelle war mannshoch und etwa einen Meter breit. Oben war sie abgerundet. Es sah tatsächlich so aus, als hätte man etwas zugemauert.
„Was sollte man mit einer Ziegelmauer verschließen?“, fragte Pascal halblaut. Seine Stimme klang in dem Kellerraum seltsam kraftlos. „Vielleicht gab es an dieser Stelle einen Naturkeller unter der Erde, eine Art Höhle, wo man Vorräte lagern konnte. Dann ist das Ding eingestürzt oder teilweise eingestürzt und wegen der Gefahr, verschüttet zu werden, hat man das Ganze mit Ziegelsteinen vermauert. Da war doch dieses Erdbeben.“ Das Mauerwerk war jedenfalls alt. Er hörte Arno Brill rufen und ging zu dem Architekten zurück.
„Es gibt leider keine Baupläne“, sagte Brill. „Ich muss das gesamte Haus von Hand ausmessen und auf meinen Computer übertragen. Dann kann ich loslegen. In zwei Wochen spätestens haben Sie einen ersten Entwurf in der Hand. Dann können Sie nach Lust und Laune dran ändern, was immer Sie wollen. Es muss einiges neu gemacht werden. Die Fenster sind nicht mehr gut. Vielleicht muss man sogar beim Dach ran.“
Pascal war es recht. Je schneller Brill mit der Restauration anfing, desto besser. Geld war kein Problem. Er hatte genug geerbt.
*
Nachdem Arno Brill mit seinen Vermessungen fertig war, fuhr Pascal zum Supermarkt. Er brauchte Brot. In der Bäckerei erlebte er eine Überraschung. An der Theke stand eine junge Frau mit schulterlangem Haar. Als sie ihn hörte, drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn an. Es war das grünäugige Gartenmädchen.
„Hallo“, sagte Pascal.
Sie lächelte ihn an. „Hallo. Haben Sie das Herrenhaus gefunden?“
Er nickte. „Ja, dank Ihrer Beschreibung war es ganz leicht zu finden.“ Er zeigte auf den kleinen Nebenraum neben der Bäckereitheke, wo mehrere Tische standen. „Darf ich Sie zum Dank zu einem Kaffee einladen?“ Bitte sag ja!, dachte er. Er konnte den Blick nicht von den grünen Augen lösen. Komm schon! Nur ein Kaffee!
Das Lächeln der jungen Frau verbreiterte sich. „Gerne. Ich bezahle nur schnell mein Brot.“
Jetzt war es an Pascal zu lächeln. „Fein. Ich kauf auch noch rasch ein Brot. Nicht dass ich es nachher vergesse und ohne dastehe.“
Er kaufte ein Mischbrot und tat es in seine Stofftasche. Dann ging er mit dem Mädchen zu einem der Tische. Sie setzten sich und bestellten bei Astrid Kluding Kaffee und Schwarzwälder Kirschtorte.
„Danke für die Einladung“, sagte das Gartenmädchen.
„Keine Ursache“, entgegnete Pascal. „Sie haben mir das Leben gerettet. Ohne Ihre Hilfe wäre ich stundenlang auf diesen krummen Straßen herumgeirrt. Wahrscheinlich wäre mir irgendwann das Benzin ausgegangen.“
Sie lachte. Es war ein nettes Lachen, fand Pascal. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht“, sagte sie. „Aber die Straßen verlaufen wirklich ungewöhnlich. Das kommt von früher. In den alten Zeiten verliefen die Wege im Dorf immer an den Grenzen der Höfe entlang. Jeder Hof hatte ein Stück Land drumherum. Als man richtige Straßen anlegte, hat man einfach die alten Wege gepflastert.“
„Darf ich fragen, wie Sie heißen?“, fragte Pascal.
„Rebekka“, erwiderte sie. „Rebekka Dahl.“
„Ich bin …“
„Sie sind Pascal Hennes, der Erbe des Herrenhauses. Ich weiß. Sie haben sich vorgestellt, als Sie nach dem Weg fragten und selbst wenn nicht, wüsste ich Bescheid. Die Familien reden über nichts anderes, seit Sie angekommen sind. Die Leute freuen sich mächtig, dass die Familie Hennes wiedervereint ist.“ Sie grinste belustigt. „Passen Sie bloß auf. Am Ende machen die Sie zum Bürgermeister. Wo Sie doch ein direkter Nachfahre von Armin Hennes sind.“
Mit einem Seitenblick erkannte Pascal, dass Astrid Kluding ihrer Unterhaltung lauschte. Sie tat, als ordne sie Backwaren, aber sie war hinter der Verkaufstheke immer näher herangerückt.
Dorfmenschen, dachte er. Immer neugierig auf die neuesten Nachrichten.
Es störte ihn nicht. Ein anderer hätte sich vielleicht an Astrids Verhalten gestört, aber er nicht.
„So weit wird es nicht kommen“, sagte er lachend. „Sie übertreiben.“
„Nicht im Mindesten!“ Ihre grünen Augen blitzten schalkhaft. „Höchstens ein klitzekleines Bisschen. Im Ernst, die fünf Familien sind glücklich, dass Sie nach Silberberg gekommen sind.“
„Dahl?“, sagte Pascal. „Sind nicht die Dahls eine der fünf Familien?“
Rebekka nickte. „Ja. Stolz, Hennes, Köhler, Theiß und Dahl. Diese fünf Familien haben den Reichtum von Silberberg begründet. Sie haben im Jahr 1632 die Silbermine im Wald entdeckt.“
„Ganz schön ungewöhnlich für diese Gegend“, sagte Pascal. „Im weiten Umkreis gibt es kein Silbervorkommen. Das nächstgelegene Gebiet mit Silberminen liegt in der Gegend von Koblenz.“
Rebekka nickte: „Stimmt. Es war ein Zufallsfund, sagt man. Jedenfalls hat es die fünf Familien reich gemacht. Sehen Sie sich nur das Herrenhaus an, das Sie geerbt haben. Das war mal kleiner, aber nachdem die Familie Hennes reich wurde, wurde der Bau stark erweitert.“
Pascal winkte ab. „Ein fürchterlicher Kasten. Viel zu groß. Nein ehrlich, das ist ein Klotz in der Landschaft. Ich wohne nur vorläufig dort. Arno Brill wird mir den alten Hof herrichten. Das Bauernhaus ist genau richtig für mich. Im Herrenhaus bleibe ich nicht.“
„Der alte Hof.“ Ein Schatten flog über Rebekkas Gesicht. „Dort hat meine Urgroßmutter Alba gelebt. Ich habe sie geliebt. Als Kind war ich ständig bei ihr zu Besuch. Sie konnte fantastisch kochen und sie hat die besten Kuchen der Welt gebacken.“ Rebekka seufzte. „Sie hat mir immer versprochen, dass ich den Hof eines Tages erben würde, wenn sie stirbt. Aber es ist nicht so gekommen.“
„Das tut mir leid“, sagte Pascal. Ihm fiel nichts Besseres ein.
Rebekka zuckte mit den Schultern. „Sie können ja nichts dafür. Es war irgendwas mit der Erbfolge. Ich war damals erst zwölf und habe es nicht recht verstanden. Es wurde kein Testament gefunden und es gab keine Besitzurkunde. Dann hieß es, Uroma Alba hätte dort auf dem Hof nur Wohnrecht gehabt. Es war nicht schön. Ich war bitter enttäuscht. Ich mochte den alten Hof.“
„Ich möchte nicht zudringlich erscheinen“, begann Pascal, „aber sind die Familien nicht wohlhabend? Konnten Sie den Hof nicht kaufen?“
Rebekka machte ein finsteres Gesicht. „Das hat Armin und Ellen nicht in den Kram gepasst. Sie wollten den Hof unbedingt behalten. Dabei hatten sie nichts damit zu schaffen. Sie haben nach dem Tod meiner Urgroßmutter alles verkommen lassen.“ Sie schaute ihn mit ihren umwerfenden grünen Augen an. „Man soll nicht schlecht über Tote reden, aber was damals ablief, fand ich gemein. Schlicht und ergreifend gemein!“
Das fand Pascal auch. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. Die junge Frau trauerte um den Hof, den sie nicht bekommen hatte und er erzählte, dass er genau den als Wohnsitz erkoren hatte. Damit mache ich mich hoffentlich nicht total unbeliebt, überlegte er. Das wäre das letzte, das ich gebrauchen könnte.
Denn er wollte, dass Rebekka nicht schlecht über ihn dachte. Er hatte sich nämlich in dieses bezaubernde Gartenmädchen verliebt.
Liebe auf den ersten Blick. An so etwas hatte er nie geglaubt. Das gab es nur in Büchern. Aber als er mit Rebekka am Gartenzaun gesprochen hatte, war etwas in seinem Innersten geschehen. Es war, als wäre ein Samenkorn in sein Herz gepflanzt worden und nun war der Samen gekeimt. Pascal war einigermaßen fassungslos. Etwas Ähnliches war ihm noch nie passiert. Er war schlicht und ergreifend in Rebekka verknallt.
Eine Idee blitzte in seinem Kopf auf. Es war eine verrückte Idee, aber auch eine gute, fand er. Er schaute Rebekka in die Augen: „Rebekka? Darf ich Sie etwas fragen?“
Sie nickte stumm. Ihre Augen machten ihn kirre.
„Wie wäre es, wenn ich Ihnen den Hof verkaufe?“
Ihre ohnehin großen Augen wurden noch größer. Sie starrte ihn an, den Mund halb geöffnet. Sprachlos. Ein kleiner Laut kam aus ihrem Mund, etwas wie: „Ah!“
„Ich meine es ehrlich“, sagte er. In ihrem Kopf musste ein ziemlicher Gefühlssturm herrschen, er sah es in ihren Augen. Sie sah aus, als ob sie jeden Moment anfangen würde zu weinen.
Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Nein. Nein. Dann hätten Sie kein Haus.“
„Ich besorge mir ein anderes. Ich habe auf meinen Streifzügen gesehen, dass einige Höfe leer stehen. Für mich ist ein schönes altes Bauernhaus wie das andere. Es hängen ja keine Erinnerungen daran. Ich bin nicht in Silberberg aufgewachsen. Ich würde Ihnen einen anständigen Preis machen, einen den Sie zahlen können.“
Rebekka starrte ihn weiter an, noch immer fassungslos. „Sie … Sie meinen das wirklich ernst!“, sagte sie.
Er nickte und lächelte dabei. “Selbstverständlich.“
Sie lächelte ihn an, dass ihm ganz anders wurde. „Das ist lieb von Ihnen“, sagte sie. „Wirklich lieb.“ Ein träumerischer Ausdruck trat in ihre Augen. „Ich habe den Hof wirklich geliebt. Es war so schön dort. Irgendwie gemütlich. Ich fühlte mich dort immer wie zu Hause. Ich fühlte mich willkommen und geborgen. Die Uroma hat für mich gekocht. Am besten waren ihre Suppen. Hühnersuppe oder Rindfleischsuppe und da drin alles, was der Bauerngarten hergab. Sie hat prima Pfannkuchen gebacken und im Sommer haben wir Marmelade eingekocht. Erdbeermarmelade und welche aus Himbeeren, Brombeeren, Kirschen und Pflaumen.“
Der verträumte Ausdruck in Rebekkas Gesicht verstärkte sich noch. „Sie war immer lieb zu mir. Sie hat mir von früher erzählt und mir alte Fotoalben gezeigt. Sie hat mir auch davon erzählt, wie damals deine Leute von Silberberg fortgingen. Das war absolut ungewöhnlich. Niemand aus den fünf Familien geht je aus Silberberg weg. Sie können es nicht. Sie sind viel zu tief im Dorf verwurzelt.“
Rebekka schaute ihn ernst an. „Mal ehrlich, das Bauernhaus muss doch renoviert werden, so wie es da steht.“
„Ja, restauriert muss es werden“, antwortete Pascal. „Von Grund auf. Neue Fenster. Innen fast alles neu. Ich kann einige von den alten Möbeln behalten, hat Arno gesagt, aber es muss viel neu gemacht werden. Wahrscheinlich muss ein neuer Dachstuhl aufs Haus.“
„Da sehen Sie es“, meinte Rebekka. Sie wirkte immer noch ernst. „Von dem Haus, das ich als Kind geliebt habe, wird nicht viel übrigbleiben. Es wird nur noch ein anderes schönes altes Bauernhaus sein.“ Sie lächelte traurig. „Es geht ja nicht um den Hof. Meine Uroma war es, die das Haus lebendig gemacht hat. Sie ist tot. Ohne sie ist das Haus nur noch Stein, Mörtel und Holz. Ich habe mich halt geärgert, dass man mir mein Erbe vorenthalten hat. So kam es mir jedenfalls als Kind vor. Vielleicht hatten die Großen ja Recht, dass die Uroma mir den Hof gar nicht vererben konnte. Rein rechtlich meine ich.“ Ihr Lächeln wurde warm. „Aber es ist lieb von Ihnen, mir das Bauernhaus zum Kauf anzubieten.“
„Das Angebot steht nach wie vor“, sagte Pascal. „Ich kann auch woanders wohnen. Um das Erbe anzutreten, musste ich nach Silberberg ziehen, aber keiner kann mir vorschreiben, wo ich im Dorf wohne. Im Herrenhaus jedenfalls nicht. Dort wohnt man nicht. Dort residiert man.“ Er zog eine Grimasse.
Rebekka lachte. Sie beugte sich über den Tisch: „Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Ich mag den klotzigen Kasten auch nicht. Ich konnte das Riesending noch nie ausstehen. Auch wenn es eigentlich schön anzusehen ist. Allein das hier in der Gegend seltene Fachwerk. Aber ich mochte den Kasten noch nie.“
Damit sind wir schon zwei, dachte Pascal. Er musste daran denken, wie düster und ablehnend ihm das Herrenhaus beim ersten Mal vorgekommen war. Ablehnend und feindlich. Aber konnten Häuser feindlich sein?
Er aß seinen Kuchen und trank seinen Kaffee. Er unterhielt sich mit Rebekka. Sie kamen gut miteinander aus. Es war, als würden sie sich schon lange kennen.
„Können wir uns vielleicht noch mal treffen?“, fragte Pascal, als der letzte Kaffee getrunken war. „Vielleicht essen gehen. Gibt es hier irgendwo ein Restaurant, das gute Küche hat?“
„Die Kanalhexe“, sagte Rebekka. „Dort bin ich gerne. Schon als Kind hat es mir dort gefallen. Die Restaurantbetreiber stammen aus England. Entsprechend ist das Restaurant eingerichtet. Sie haben das beste Essen im weiten Umkreis.“ Sie lächelte ihn an, dass ihm warm wurde. „Ja, es wäre nett, mit Ihnen in die Hexe zu gehen.“
„Prima.“ Pascal freute sich. Während er mit Rebekka eine Verabredung traf, sah er, wie Astrid Kluding fast über die Theke fiel, um nur ja kein einziges Wort zu verpassen.
Morgen weiß es das ganze Dorf, dass ich mit Rebekka Dahl eine Verabredung habe, dachte er belustigt. Es machte ihm nichts aus. Er war glücklich. Er war mit dem hübschesten Mädchen der Welt verabredet. Er freute sich wie ein Schneekönig.
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