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Geschrieben von Stefan Steinmetz am 08.10.2024 um 07:48:

Wenn der Rote Hahn kräht(8)

Pascal kam von einem Spaziergang durchs Dorf zurück. Rebekka behielt Recht. Wenn man ein paarmal die krummen Straßen entlanggewandert war, begann man sich alles zu merken. Die Straßen waren alle bogenförmig. Es gab so gut wie keine Straße, die über eine längere Strecke geradeaus verlief, aber allmählich kannte er sich in Silberberg aus. Wo immer er längs kam, wurde er von Mitgliedern der fünf Familien begrüßt. Die Leutchen führten sich auf, als wäre ein verlorener Sohn nach vielen Jahren aus der Fremde zurückgekehrt. Es war Pascal ein wenig peinlich, wie sehr man ihn hofierte. Er war keiner, der gerne im Mittelpunkt stand.
Die Weltlichen waren anders. Sie grüßten ihn, wenn er vorbeikam. Sie winkten ihm zu, wenn er die Hand zum Gruß hob und gelegentlich ließen sie sich auf ein Schwätzchen mit ihm ein, aber sie wirkten nie aufdringlich, obwohl er ihre Neugier spüren konnte. Und etwas Anderes: Misstrauen.
Als er in die Silberstraße kam, sah er eine Familie vor ihrem Haus auf der Straße stehen. Es waren Vater, Mutter und Kind. Der Vater schob eine Mülltonne zur Straße.
„Guten Tag“, grüßte Pascal. „Gut, dass ich Sie mit der Tonne sehe. Ich muss meine noch rausstellen. Morgen kommt die Müllabfuhr. Das hätte ich glatt vergessen.“ Er zeigte zum Herrenhaus. „Ich wohne seit Neuestem in dem Kasten. Bin von außerhalb zugezogen. Mein Name ist Pascal Hennes.“
Der Mann reichte ihm die Hand: „Ich bin Hagen Ziegler. Das sind meine Frau Ulrike und unser Sohn Lukas. Er ist elf.“
Die Zieglers schauten Pascal mit kaum verhohlener Neugier an, aber sie verhielten sich zurückhaltend. Pascal war dankbar dafür. Das war angenehmer, als wenn man mit übertriebener Freundlichkeit überfallen wurde.
Lukas starrte Pascal neugierig an. Schließlich rang er sich zu einer Frage durch: „Haben Sie schon das Verlies in Ihrem Keller gesehen?“
Pascal musste schmunzeln. „Das Verlies?“
Der Junge nickte. „Das Verlies. Johanna hat gesagt, es gibt eins. Im Keller. Da werden Kinder eingekerkert.“
Pascal musste lachen. „Ich sehe schon, diese Geschichte ist im Dorf ziemlich verbreitet. Wer weiß, vielleicht steckt ein Körnchen Wahrheit darin. Ich kann dir aber leider nicht sagen, ob ich einen Privatkerker im Keller habe, Lukas. Weil ich noch nicht im Keller war.“
Der Junge runzelte die Stirn. „Sie wohnen seit über einer Woche im Herrenhaus und waren noch nie im Keller? Wieso nicht? Fürchten Sie sich im Keller?“
Pascal schüttelte den Kopf. „Nein. Tu ich nicht. Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, mir den Keller anzuschauen. Sollte ich bei Gelegenheit mal machen. Ich habe keine Ahnung, wie es da unten aussieht. Vielleicht ist alles mit altem Krempel vollgestopft. Vielleicht gibt es Werkzeuge. Der Notar hat gesagt, es gibt eine Waschküche. Da war ich auch noch nicht, aber morgen muss ich das checken. Ich muss schließlich meine Wäsche waschen. Vielleicht finde ich dabei das Verlies. Wer weiß?“ Pascal grinste. Dann wurde er wieder ernst. „Könnte auch sein, dass dort unten ein Grill steht. Den könnte ich gut gebrauchen. Jetzt, wo das Wetter schön wird, würde es mir Spaß machen, hinterm Haus zu grillen. Das mache ich gerne. Wo ich vorher wohnte, hatte ich hinterm Haus ein kleines Stückchen Land, gerade groß genug, damit ein paar Leutchen eine Grillparty feiern konnten.“
Ulrike Ziegler lächelte ihren Sohn an. „Das mag unser Lukas auch. Er ist ganz wild aufs Grillen.“ Sie schaute Pascal an. „Wie wäre es mit einer kleinen Grillparty bei uns? Wir haben einen Grill, der groß genug ist, auch Besucher mit Futter zu versorgen.“
„Dann bräuchten Sie nicht im Keller nach einem verstaubten alten Grill zu suchen“, sagte Hagen. Er grinste. „Soweit ich weiß, gibt es keinen. Wir haben Armin und Ellen nie grillen sehen. Sie saßen oft hinterm Haus in Liegestühlen, aber einen Grill gab es nicht.“
„Danke für die Einladung“, sagte Pascal. Er warf einen Blick zum Himmel. „Im Moment sieht es nicht so toll aus. Ziemlich viele Wolken und ab und zu regnet es. Ich habe auf meinen Radtouren immer eine Regenjacke an. Aber in den nächsten Tagen soll das Wetter besser werden. Ja, warum nicht? Ein bisschen grillen wäre nett. Ich besorge das Grillgut. Einweihungsparty gewissermaßen. Sie müssen mir nur aufzählen, was Sie am liebsten haben. Dann kaufe ich im Supermarkt in der Metzgerei ein.“
Sie besprachen das kleine Nachbarschaftsevent und Pascal merkte sich, dass Lukas am liebsten grobe Bauernbratwürste aß. „Genau wie ich“, meinte Pascal. „Die grille ich auch sehr gerne. Nur vom Grill schmecken sie wirklich gut. In der Pfanne nicht so. Außerdem spritzt das Fett wie blöde und man versaut sich den ganzen Herd.“
Man verabschiedete sich freundschaftlich. Je nachdem wie das Wetter sich in den nächsten Tagen entwickeln sollte, würde man eine Verabredung treffen.
Pascal zog gut gelaunt ab. Er mochte seine nächsten Nachbarn. Die Zieglers waren ihm auf Anhieb sympathisch. Sie waren einfach nur freundlich und ganz ohne die aufdringlich wirkende Neugier, die ihm von den fünf Familien entgegengebracht wurde.
*
Pascal hatte Rebekka zu Hause abgeholt und fuhr mit ihr zur Kanalhexe. Das Restaurant lag außerhalb Silberbergs neben der Landstraße zum nächsten Ort. Mitten im Wald an einer Abzweigung gab es ein großes freies Stück Land mit einer alten Wassermühle, die zum Restaurant umgebaut worden war. Das Gebäude sah urig aus, außen wie innen. Es war im Stil südwestdeutscher Bauernhäuser erbaut und drinnen war alles mit Holz getäfelt. Die niedrige Decke gab dem weitgeschnittenen Gastraum etwas Heimeliges, wozu auch die vielen Messingbeschläge, die an altmodische Gaslampen erinnernden Leuchten und deren warmtöniges goldenes Licht beitrugen. Sofort nach dem Eintreten erblickte Pascal an der gegenüberliegenden Wand ein eingerahmtes Poster. Man erkannte das vordere Fenster eines englischen Narrowboats. Aus dem Fenster schaute das grimmige Gesicht einer Hexenpuppe, mit schwarzem Spitzhut und gruseligen toten weißen Augen. Darunter stand ein hölzernes Schild mit der Aufschrift: „Slow down, or I’ll turn you into a frog!“ (Mach langsam, oder ich verwandle dich in einen Frosch!)
Er musste lachen. „Cooles Poster! Solche Warnschilder habe ich in England häufig gesehen. Es soll die vorbeifahrenden Boote dran erinnern, dass sie auf Tickover gehen müssen, wenn sie angelegte Boote passieren. Die Drehzahl des Dieselmotors runter, bis er fast abstirbt und schön langsam an einem am Ufer liegenden Boot vorbeifahren. Jetzt weiß ich, warum das Restaurant Kanalhexe heißt.“
Es gab weitere Bilder an den Wänden, die Aufnahmen von englischen Narrowboats zeigten.
„Hier gefällt es mir“, sagte Pascal, während er Rebekka zu einem freien Tisch begleitete. „Coole Bilder.“
„Sie kennen diese Boote?“, fragte Rebekka.
„Kennen? Ich liebe Narrowboats“, antwortete Pascal. „Ich war schon zweimal in England und habe auf den Kanälen Ferien gemacht.“
Der Besitzer des Restaurants kam zum Tisch und legte ihnen die Speisekarte vor.
„Die Steaks sind hervorragend“, sagte Rebekka, „aber die eigentliche Spezialität der Kanalhexe ist Fisch in allen möglichen Variationen. Süßwasser- und Seefisch.“
„Perfekt“, meinte Pascal. „Ich bin ein Fischmarder. Ich habe schon immer gerne Fisch gegessen.“
„Dann sind Sie hier genau richtig“, sagte Rebekka. „Dave und Eileen Porter sind für ihre Fischküche in weitem Umkreis bekannt.“
Sie suchten sich ihre Gerichte aus. Pascal wählte einen Teller mit mehreren Stücken von Süßwasserfischen. „Wenn schon, dann kann ich alles mal probieren“, fand er.
Während sie auf das Essen warteten, betrachtete Pascal die vielen Bilder. Sie zeigten Narrowboats aller Art auf den englischen Kanälen.
„Ich liebe diese Bilder“, sagte Rebekka, die seinem Blick folgte. „Mit acht Jahren war ich zum ersten Mal in der Hexe. Die Fotos faszinierten mich.“
Die Porters, erfuhr Pascal, waren in England ein Jahrzehnt lang im eigenen Narrowboat kreuz und quer über die schmalen Kanäle geschippert. Dann hatten sie ihr Boot nach Frankreich bringen lassen, um die französischen Kanäle zu befahren. Von Anfang an wollten sie irgendwo an einem Kanal ein Restaurant eröffnen. Es war ein Zufall, dass sie bei einem Aufenthalt in Saarbrücken nahe der französischen Grenze auf die alte Mühle im Wald bei Silberberg aufmerksam wurden. Sie kauften das Gebäude zu einem Spottpreis, verkauften ihr Boot und bauten die Mühle zu einem Restaurant um.
Sie warf einem Foto an der Wand einen sehnsüchtigen Blick zu: „Ich stelle es mir wundervoll vor, auf so einem Boot zu leben. Man ist völlig frei und kann fahren, wohin man will.“ Sie schaute ihn an. „Sie waren zweimal in England? Auf den Kanälen?“
Pascal nickte. „Einmal mit Kumpels und einmal ohne. Ich bin singlehanded gefahren, also allein, Einhand gewissermaßen. War nicht schwierig. Es hat tierisch Spaß gemacht. Ich will dieses Jahr nochmal rüber nach Großbritannien.“
Sie schaute ihn an, dass ihm anders wurde: „Narrowboat fahren?“
Er nickte. „Ganz genau. Ich weiß noch nicht, bei welchem Hirer ich ein Boot miete. Es sollte nicht zu weit von Aintree entfernt liegen. Ich will mir da mal die Bootsbauerei anschauen.“
„Aintree? Da wo die Aintree Beetles gebaut werden?“
„Ja. Die bauen aber auch richtig große Narrowboats und Widebeams, also die größeren und breiteren Pötte. Sie kennen die Aintree Beetles?“
„Kennen? Ich liebe die knuffigen kleinen Schiffchen.“ Rebekkas Augen bekamen einen Glanz. „Ich interessiere mich für diese Boote, seit ich mit acht Jahren zum ersten Mal in der Kanalhexe war. Dave und Eileen haben mir später mal ein paar Magazine übers Bootfahren auf den englischen Kanälen geliehen. Als ich genug Taschengeld hatte, habe ich sie abonniert. Ich lese die Hefte seit Jahren.“
Pascal grinste. „Darf ich raten? Waterways World und Canal Boat, stimmt’s?“
Sie grinste zurück. „Ja, stimmt genau.“
„Die lese ich auch seit Jahren. Es war eine Umgewöhnung, alles auf Englisch zu lesen, aber man lernt es mit der Zeit.“
Das Essen kam. Es schmeckte Pascal hervorragend. „Fantastisch!“, lobte er den Fisch. „Hier war ich garantiert nicht zum letzten Mal. Mögen Sie mich noch einmal begleiten, Rebekka? Vielleicht nächste Woche?“
„Gerne“, erwiderte sie. Ihr Lächeln wärmte ihm das Herz. „Ich könnte jede Woche in der Kanalhexe essen.“
„Wir könnten ein Abo nehmen“, scherzte Pascal. „Glauben Sie, die Restaurantbetreiber haben Abonnements im Angebot?“
Rebekka lachte. „Sie können ja mal nachfragen.“
„Ach …“ Pascal ließ die Gabel auf und ab wippen. „Sollen wir nicht Du zueinander sagen? Wo wir doch die gleichen Interessen haben? Englische Kanäle und Narrowboats?“
„Einverstanden“, antwortete sie. „Ich interessiere mich aber auch für die Kanäle hier in der Gegend.“
„Hier gibt es Kanäle? Ich dachte, dass nur auf der Saar Boote verkehren.“
Sie lächelte ihn an. „Von Saarbrücken aus führt der Saar-Kohle-Kanal nach Lothringen und der mündet in den Rhein-Marne-Kanal. Ich bin oft mit dem Fahrrad drüben in Frankreich und radle den Treidelpfad entlang. Manchmal habe ich das Rad auf einem Fahrradträger und fahre mit dem Auto ein Stück weit nach Süden und erkunde dort Kanalstrecken, die ich noch nicht kannte. Vor vier Wochen war ich am Schiffshebewerk von Arzviller.“ Rebekka wirkte bedauernd. „Leider war keiner mit. Meine Freundinnen wollen nicht immer am Kanal Rad fahren und alleine macht es mir keinen Spaß. Es kommen eh nur Mädchen aus den weltlichen Familien mit. Die aus den Familien verlassen Silberberg ja nie. Die kleben hier fest. Sie sind wie Vögel, die ein Leben lang im Käfig eingesperrt waren. Wenn man die Käfigtür öffnet, trauen sie sich nicht raus.“
„Bist du nicht auch eine Dahl?“, fragte Pascal.
Sie lachte ihn an. „Ja, aber ich bin ein Halbblut. Meine Mutter war eine Weltliche und davor gab es jede Menge weltliches Blut in meiner Ahnenreihe. Ich kann jederzeit weg von Silberberg. Ich kann die Grenze übertreten.“ Ihre Stimme wurde leise. „Wie deine Vorfahren damals, als das Erdbeben die Silbermine zum Einsturz brachte.“
„Ja, ich bin auch ein Mischling“, meinte Pascal. „Ich stamme aus einer Halbblutfamilie. Inzwischen dürfte mein Erbgut ziemlich verwässert sein, wenn es um die Familienzugehörigkeit geht. Ich habe noch viel weniger Familienerbe im Blut als du.“
„Die wollen dich aber hier haben“, sagte Rebekka. „Sie sind ganz aus dem Häuschen, dass du nach Silberberg gekommen bist. Sie reden von nichts anderem.“ Sie lächelte schief. „Sie sagen, der verlorene Sohn ist heimgekehrt.“
„Ja, sie sind sehr herzlich auf mich zugegangen“, sagte Pascal. Dass er das Benehmen der Familien eher als aufdringlich empfand, sagte er nicht. Rebekka war aus einer der Familien. Er hatte nicht vor, sie mit einer unbedachten Bemerkung vor den Kopf zu stoßen. Er wollte nicht, dass sie sich von ihm zurückzog, im Gegenteil.
„Dieser Kanal“, fing er an, „könnten wir vielleicht mal da radeln? Wo du nicht gerne alleine fährst.“
„Das wäre nett“, sagte sie und lächelte ihn wieder so umwerfend an. „Hast du ein Fahrrad?“
Er nickte. „Ja, habe ich. Mit elektrischer Unterstützung. Ich habe sogar einen zusätzlichen Akku. Den nehme ich in der Gepäckträgertasche mit und kann ihn einsetzen, wenn der erste Akku leer wird. Dadurch habe ich eine phänomenale Reichweite.“
„Mein Rad hat ab Werk einen doppelten Akku“, sagte Rebekka. „Ich habe ein Rad von Utopia. Das ist eine Manufaktur in Luisenthal. Da kann man sich einen Rahmen aussuchen und die Anbauteile selbst auswählen. Die haben unterschiedliche Schaltungen und Bremsen. Es gibt alle möglichen Sättel und Lampen.“
„Also quasi bespoke“, meinte Pascal. „Wie ein Narrowboat von Aintree Boats. Man entscheidet, wie groß das Boot wird und kann sich die Innenausstattung aussuchen.“
Rebekkas Augen blitzten. „Ja. Wenn ich es mir so anschaue. Stimmt. Bespoke.“ Sie lachte. Ihr Lachen gefiel ihm.
Während sie aßen, sprachen sie über die Radtour, die sie demnächst machen wollten. Rebekka hatte einen Radträger, den man auf der Anhängerkupplung ihres Autos montieren konnte.
„Wir fahren nach Saargemünd, stellen das Auto dort ab, und folgen dem Treidelpfad nach Süden“, meinte sie. „Du wirst sehen, die Strecke gefällt dir. Mal geht es durch Wald, dann durch Dörfer und Städte.“
„Ich freue mich schon darauf“, sagte Pascal. Und das tat er wirklich.

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