Stefans Geschichten (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/index.php)
- Willkommen auf der Homepage von Stefan Steinmetz (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/board.php?boardid=31)
--- Die kleine Privat-Ecke (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/board.php?boardid=86)
---- Wenn der Rote Hahn kräht (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/board.php?boardid=134)
----- Wenn der Rote Hahn kräht(15) (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/threadid.php?threadid=1737)


Geschrieben von Stefan Steinmetz am 15.10.2024 um 10:44:

Wenn der Rote Hahn kräht(15)

Am nächsten Tag gingen Rebekka und Pascal gemeinsam zu den Zieglers hinüber. Pascal hatte eine Kühltasche voller Grillgut dabei und eine weitere Kühltasche mit Bierdosen. Die Zieglers hießen sie willkommen.
„Schön, dass du mitgekommen bist“, sagte Ulrike zu Rebekka. Sie umarmte Rebekka und küsste sie auf die Wange.
„Kommt mit hinter das Haus“, bat Hagen. „Der Grill ist so weit. Ich habe bereits Holzkohle aufgelegt. Ich muss sie nur noch anzünden. Keine Angst, ich benutze Anzünder aus Wachs und Sägemehl, nicht diese abscheulichen Würfel aus Trockenspiritus, nach denen dann alles stinkt, vor allem die Finger. Man kriegt den Mief nicht mehr weg.“
Pascal grinste: „Ein erfahrener Griller. Die Spiritus-Stink-Phase habe ich auch schon lange hinter mir.“
Sie gingen hinters Haus und machten es sich gemütlich. Lukas kam hinzu. Er begrüßte Pascal und Rebekka. „Hast du inzwischen in deinem Keller nachgesehen?“, wollte er von Pascal wissen. „Hast du das Verlies entdeckt, wo die Hennes-Leute kleine Kinder einsperren?“
Pascal grinste „Ja, habe ich.“ Er feixte. „Da saß jemand drin.“
„In echt?“, fragte Lukas.
Pascal nickte energisch: „Jawoll, mein Herr! Da saß was drin in dem Verlies im Keller.“
„Das hast du damit gemacht?“ wollte Lukas wissen. Er war die Neugier in Person.
„Ich habe es rausgelassen“, sagte Pascal. „Es war ein Mädchen, so alt wie du. Es saß seit über hundert Jahren in dem Verlies.“
Lukas lachte: „Über hundert Jahre? Da wäre es ja längst verhungert.“
Pascal macht ein verschwörerisches Gesicht. „Sie hat in all den Jahren strenge Diät gehalten. Der Zorn auf die, die sie eingesperrt haben, hielt sie am Leben und sie hat bittere Rache geschworen. Sobald sie frei ist, wird sie alle Jungen in ihrem Alter ermorden, abmurksen und so lange umbringen, bis sie tot sind. Dann müssen Sie den Rest ihres Lebens als Leiche verbringen. Buuuuh!“
Sie lachten alle, auch Lukas.
„Das klingt ein wenig wie die Geschichten, die man sich im Dorf erzählt“, sagte Ulrike. „Dass es mit dem Reichtum der fünf Familien nicht mit rechten Dingen zuging und solche Sachen. Du brauchst dir aber keine Sorgen zu machen, Pascal. Du bist ja ein geborener Hennes.“
„Aber nur zu einem Viertel oder zu einem Achtel oder so“, sagte Pascal. „Mein Blut ist stark verdünnt.“
„Aber ein echter Hennes“, sagte Hagen. „Die Leute von den fünf Familien reden über nichts anderes mehr, seit du da bist.“
„Ja, das hat mich auch schon gewundert, wie die um mich herumscharwenzeln“, sagte Pascal.
„Weil du ein Hennes bist“, sagte Ulrike. „Zwar bist du ein halber Weltlicher aber zugleich bist du sowas wie der verlorene Sohn, der nach langen Jahren in der Fremde nach Hause zurückgekehrt ist. Sie hoffen wohl, dich in ihren Kreis aufnehmen zu können und in ihre Glaubensgemeinschaft.“
Inzwischen hatte sich eine schöne Glut auf dem Grill gebildet. Hagen legte das Grillgut auf. „Eine Glaubensgemeinschaft“, sagte er. „Man redet auch von einer verschworenen Gemeinschaft. Ich weiß von meinem Großvater, dass die fünf Familien früher ihre eigenen Messen abhielten und zwar irgendwo in einem geheimen Raum. So hieß es jedenfalls. Falls du mich fragst: Das ist Quatsch. Das müsste ja ein wirklich großer Raum sein. Es gibt aber in ganz Silberberg kein Haus mit so einem großen Raum, dass sämtliche Mitglieder der fünf Familien darin Platz hätten. Ich glaube eher, dass die Familien ihre eigenen Messen sonntags im Vorraum der Silbermine abhielten. Davon habe ich aus mehreren Quellen erfahren. Gleich vorne, wo es in den Hügel hineingeht, sollen sie ihre Gottesdienste abgehalten haben.“
Ulrike runzelte die Stirn: „Das kann aber nicht sein. Da hätten sich gewiss Neugierige eingeschlichen und zugesehen, was da ablief. Davon hat man aber noch nie gehört. Groß genug wäre die Höhle vorm Stolleneingang, aber wie gesagt … geheime Messen hätte man da nicht abhalten können.“
„Wieso nicht?“, hielt Hagen dagegen. „Die haben ihre Messe abgehalten, wenn die weltlichen Silberberger sonntagsmorgens in den umliegenden Dörfern zu Kirche gingen. In Silberberg gibt es keine Kirchen, weder katholische noch evangelische.“
„Das gottlose Dorf“, sagte Ulrike. „So nannten sie früher Silberberg. Aber in der Höhle ist nichts und nach dem Erdbeben zu Kaisers Zeiten geht eh niemand mehr dorthin. Die Höhle ist einsturzgefährdet. Es stehen überall Warnschilder.“
Pascal dachte an dem fast unsichtbaren Trampelpfad vor der Höhle. „Vielleicht hat man die Schilder aufgestellt, um Neugierige abzuhalten“, sagte er. „Könnte doch sein, oder?“
Hagen schüttelte den Kopf: „Nein. Die Höhle ist wirklich unsicher. Das haben damals die Behörden herausgefunden und die Schließung der Mine verfügt.“ Er wandte sich an Rebekka: „Weißt du etwas? Du bist eine Dahl.“
„Eine Dahl und ein noch stärker verwässertes Sechszehntelblut“, sagte Rebekka. „Ich stehe den Familien noch weniger nahe als Pascal. Offiziell gehöre ich fast gar nicht mehr zu ihnen.“ Sie verzog den Mund zu einem Strich: „Was man ja gesehen hat, als sie mich um mein Erbe brachten! Meine Urgroßmutter hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, dass die Geschichte von dem geheimen Raum unter dem Dorf kein Märchen sei. Es soll einen großen Raum im Untergrund geben, wo die vollwertigen Angehörigen der fünf Familien geheime Versammlungen abhielten. Jedenfalls haben sie es getan bis ins Jahr 1891. Da gab es das große Erdbeben, dass die Mine zerstörte. Danach war alles anders. Es schien, als ob es keine verschworene Gemeinschaft mehr gab, die geheime Riten ausübte.“
Lukas, der die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, mischte sich ein: „Aber es verschwanden weiterhin Kinder, immer Mädchen aus den fünf Familien!“
„Es wird viel aufgebauscht“, sagte seine Mutter. „Wenn die Leute nicht recht Bescheid wissen, erfinden Sie gerne geheimnisvolle Geschichten. Das ist in jedem Dorf so. Die Leute tratschen gerne.“
Lukas schaute Pascal an: „Dann hast du also niemandem aus dem unterirdischen Verlies rausgelassen? Weil es nämlich gar keins gibt!“
„Du hast mich erwischt“, gab Pascal zu. „Ich habe bloß Seemannsgarn gesponnen. Der Keller unter dem Herrenhaus ist dunkel und auch ein bisschen unheimlich, aber es gibt in diesem Keller kein Verlies, in dem Kinder eingesperrt sind. Mein Wort drauf.“ Ich lüge nicht, dachte er bei sich. Magdalena war ja nicht im Keller eingekerkert, sondern in dem unterirdischen Gang, der vom Herrenhaus zu Albas Hof führt. Wer weiß, vielleicht führen weitere Geheimgänge vom Hof aus weg, die inzwischen zugemauert sind. Er musste an den großen Zeremonienraum denken, von dem der Dorftratsch redete. Früher hatte vielleicht jedes Haus der fünf Familien einen unterirdischen Zugang dorthin.
Und dort haben sie dem dunklen Fürsten gehuldigt. Bei der Vorstellung überlief in eine Gänsehaut.
Später, nachdem sie gegessen hatten, unterhielten sie sich zwanglos. Das Thema unterirdisches Verlies vermieden sie tunlichst. Es war, als hätten sie eine wortlose Verabredung getroffen.
Abends grillten sie noch einmal. Erst um halb zehn endete die kleine Nachbarschaftsparty.
„Ich besorge einen Grill“, versprach Pascal. „Ihr müsst unbedingt mal zu mir kommen.“
Er brachte Rebekka nach vorne zur Straße. Dann standen sie voreinander und schauten sich an. Sie wussten beide nicht so recht, wie sie es angehen sollten. Pascal macht eine Geste zum Herrenhaus hin, um Rebekka zu fragen, ob sie nicht Lust auf ein Glas Wein hätte.
„Gehen wir noch zu mir?“, fragte sie hastig, bevor er seine Einladung aussprechen konnte.
Klar doch, dachte Pascal. Sie kann den alten Kasten nicht leiden. Damit sind wir schon zwei.
„Gerne“, sagte er. Er wusste genau, was die Einladung bedeutete und er folgte ihr nur zu gerne. Als sie nebeneinander zu Rebekkas Haus spazierten, bemerkte Pascal, dass hinter so manchem Fenster der Häuser der fünf Familien, eine Gardine zur Seite gezogen wurde. Morgen weiß es ganz Silberberg, dachte er. Er wusste nicht, ob er belustigt oder sauer sein sollte. Aber letzten Endes konnte es ihm egal sein. Sollten Sie ihnen doch hinterher gaffen. Es interessierte ihn nicht. Ihn interessierte nur Rebekka. Und die interessierte sich nur für ihn.
Es kam wie es kommen musste. Sie nahmen sich nicht mal die Zeit für ein Gläschen Wein und als sie zusammenkamen, dachten sie nicht an die fünf Familien oder irgendwelche geheimnisvollen Messen, die in aller Heimlichkeit abgehalten wurden. Sie hatten leidenschaftlichen Sex. Sie harmonierten auf Anhieb miteinander, als wären sie seit langer Zeit ein Paar.
Pascal hatte so etwas noch nie erlebt. Es überrollte ihn wie ein Güterzug. Es war, als hätten sie beide seit Jahren aufeinander gewartet.
Später, als sie nebeneinander lagen, stellte ihm Rebecca eine Frage: „Du hast also kein Verlies in deinem Keller gefunden?“
Er schüttelte den Kopf: „Nein. Nichts dergleichen. Das ist bloß eine alte Geschichte.“
„In alten Geschichten steckt oft ein Körnchen Wahrheit.“
„Gewiss, das glaube ich auch.“ Pascal zögerte. Er hätte Rebekka gerne von seinem Fund in dem unterirdischen Gang erzählt, doch er schreckte noch immer davor zurück. Er konnte nicht sagen, weswegen. Stattdessen erzählte er Rebekka von dem Narrowboat, dass er mieten wollte.
„Wie wäre es?“, fragte er. „Hättest du Lust, mich zu begleiten? Du machst ja deine Arbeit von zu Hause aus am Computer, genau wie ich.“
Sie fiel ihm um den Hals. „Nur zu gerne“, sagte sie. „Da lasse ich mich nicht zweimal bitten.“
„Die Familienchefs wird es freuen“, sagte er und wunderte sich, wie viel Sarkasmus in seiner Stimme mitschwang.
„Die Familienchefs können mir den Buckel runterrutschen“, sagte Rebekka und küsste ihn.
Er nahm sie in die Arme. Das zweite Mal wurde noch besser als der erste Durchgang.
*
Es sprach sich tatsächlich in Windeseile herum, dass Pascal und Rebekka zusammengekommen waren. Die Leute aus den Familien waren ganz aus dem Häuschen.
Ich muss mir Schuhe mit grobstolligem Profil anschaffen, dachte Pascal, sonst rutsche ich auf einer der vielen Schleimspuren aus. Junge, Junge!
Es war echt verrückt. Und sie waren überall. Er brauchte nur vor die Tür zu treten, schon waren Leute da, die ihn in ein Schwätzchen verwickelten und ihm zu seiner Freundschaft mit Rebekka gratulierten. Es wurde ihm fast zu viel, aber er machte gute Miene zu dem übertriebenen Spiel. Besser man fand es gut, dass er mit Rebekka zusammen war, als dass die Leute ablehnend reagierten. Aber sie waren Schleimer. Sie waren aufdringlich. Gleich sechs Personen fragten ihn über Leihmutterschaft in der Ukraine aus. Pascal gewöhnte sich an, zu sagen, er kenne sich nicht gut genug aus, um etwas Genaueres dazu zu sagen. Man möge sich doch bitte übers Internet selbst schlau machen. Da gab es spezielle Seiten der verschiedenen Dienstleister und auf YouTube gab es zig erklärende Videos.
Prompt beschied man ihm, er habe sich ja doch seine Gedanken gemacht und man versprach, sich im Internet umzutun.
Rebekka erging es nicht besser. Auch sie wurde mächtig ausgefragt. Sie nahm es mit Humor und einer Portion Sarkasmus.
„Jetzt können Sie sehen, wo sie bleiben“, sagte sie eines Tages, als sie wieder mal in der Kanalhexe aßen. „Da haben Sie mich vor zehn Jahren um mein Erbe gebracht und nun komme ich ja doch noch an Urgroßmutter Albas Haus, wie es aussieht.“
Sie mussten beide lachen.
Pascal hat ein schlechtes Gewissen beim Lachen. Er hatte Rebekka immer noch nichts von Magdalena erzählt. Ich sage es ihr, wenn wir vom Narrowboatfahren zurück sind, nahm er sich vor. Ich brauche ja selbst noch Zeit, mich an meinen kleinen Hausgast zu gewöhnen.
Immerhin hatte er herausgefunden, dass Magdalena eine Vorliebe mit ihm teilte: Sie spielte für ihr Leben gerne Dame, etwas das Pascal auch gerne machte. Oft saßen sie zusammen und spielten ein oder zwei Partien.
Dass er Magdalenas Existenz geheim halten musste, stank ihm gewaltig. Mehr als einmal fragte er sich, warum ausgerechnet von seinem kleinen Schützling ein Bild existierte. Hätte es das Bild im Herrenhaus nicht gegeben, hätte er das Mädchen als Verwandte vorstellen können oder als adoptierte Tochter. Aber das ging nicht, weil alle Mitglieder der fünf Familien das verflixte Bild kannten. Da half auch moderne Mädchenkleidung nichts. Die bestellten Sachen waren inzwischen angekommen und Magdalena sah in Bluejeans, farbigen T-Shirts und mit Sportschuhen aus wie ein ganz normales Kind der Zeit. Ja wenn das verdammte Bild nicht gewesen wäre …

Powered by: Burning Board Lite 1.0.2 © 2001-2004 WoltLab GmbH