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Geschrieben von Stefan Steinmetz am 19.10.2024 um 10:23:

Wenn der Rote Hahn kräht(19)

„Oh Mist!“ Agnes Friedmann hielt den Wagen an. „Ich habe die Milch vergessen! Ich muss doch morgen früh Kuchen backen. Nachmittags kommt Tante Helga zu Besuch.“
„Lass mich hier aussteigen“, schlug Johanna vor. „Bis zum Herrenhaus sind es bloß noch ein paar Schritte. Gib mir den Schlüssel. Ich kann dann schon mal nach dem Rechten sehen. Fahr zum Supermarkt und besorg die Milch. Nachher brauchst du mich bloß abzuholen.“
Ihre Mutter reichte ihr den Haustürschlüssel: „Fürchtest du dich nicht vor dem Geist, der im Herrenhaus spukt?“
„Ich glaube nicht an Geister, bis ich einen leibhaftig sehe“, gab Johanna zurück. Sie stieg aus, schloss die Autotür hintAer sich und marschierte los. Ihre Mutter wendete und fuhr den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Johanna lief, so schnell sie konnte, zum Herrenhaus.
Vor der Haustür holte sie tief Luft, dann steckte sie den Schlüssel vorsichtig ins Schloss, bemüht, nicht das allerkleinste Geräusch zu machen. Sie schob die Tür vorsichtig auf und schloss sie leise hinter sich. Als erstes schlich sie in das Zimmer den Gemälden. Ein weißer Damestein war bewegt worden.
Sie hörte ein Geräusch im oberen Stockwerk. „Wer immer diese Dame-Partie mit mir spielt, ist jetzt da oben“, flüsterte sie. Auf leisen Sohlen schlich sie die Treppe hinauf. Sie wagte kaum zu atmen. Als sie am oberen Ende der Treppe ankam, sah sie die Tür des Raumes mit dem Schreibpult offenstehen. Offensichtlich hielt sich jemand in dem Zimmer auf. Mit angehaltenem Atem schlich Johanna zu der offenen Tür. Das Zimmer war nicht leer. Am Pult saß jemand. Es war ein Mädchen in ihrem Alter in Bluejeans und einem roten T-Shirt. Das Mädchen trug Sportschuhe und war damit beschäftigt, ein Bild zu malen.
Johanna warf einen schnellen Blick in die Runde. An den Wänden hingen vier handgemalte Bilder. Sie zeigten den Garten draußen mit allen möglichen Blumen und Tieren. Schmetterlinge gaukelten durch die Luft, ein Igel hockte unterm Apfelbaum, eine Maus huschte unter einen Busch und eine grüne Eidechse sonnte sich auf einem Stein. Wer immer diese Bilder gemalt hatte, hatte Talent.
Das Mädchen am Pult legte einen roten Farbstift zur Seite. Sie griff zu einem Bleistift. Dabei konnte Johanna ihr Gesicht im Profil sehen. Ihr fiel die Kinnlade herunter. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus. Sie kannte dieses Mädchen! „Magdalena!“ Das rutschte ihr einfach so heraus.
Das Mädchen am Pult zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum. Dunkelblaue, weit aufgerissene Augen starrten Johanna aus einem kreidebleichen Gesicht an. Blankes Entsetzen stand in diesen Augen. „W-Wer bist du?“, stotterte das Mädchen. Es warf einen gehetzten Blick umher, als suche es einen Fluchtweg.
„Ich bin Johanna Friedmann“, sagte Johanna. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Sie hatte mindestens genauso viel Angst wie das Mädchen am Pult. „Meine Mutter putzt hier im Herrenhaus. B-B-Bist du ein Geist?“
Das Mädchen schaute sie voller Angst an. „Bitte tu mir nichts!“, flehte es. „Ich verschwinde auf der Stelle. Bitte …“ Plötzlich brach es in Tränen aus. „Bitte verrate mich nicht. Bitte, bitte nicht? Sie dürfen nicht wissen, dass ich frei bin. Sie m-m-mauern mich sonst wieder lebendig ein!“ Das Mädchen schluchzte herzzerreißend. „Oh bitte verrate mich nicht!“
Johanna entspannte sich. Dieses Geistermädchen wollt ihr ganz sicher nichts Böses. Von ihr ging keine Gefahr aus. Sie betrat das Zimmer.
„Hab keine Angst“, sprach sie beruhigend. „Ich verrate dich ganz bestimmt nicht. Ehrenwort!“ Langsam ging sie auf das Mädchen zu. „Du bist es wirklich!“, rief sie aus. „Du bist das Mädchen von dem Bild unten in dem Raum, wo das Damebrett auf dem Tisch aufgebaut ist. Du bist Magdalena Hennes! Aber wie kann das sein? Das Bild wurde 1631 gemalt!“
Das Mädchen schaute sie verängstigt an. „Verrätst du mich wirklich nicht?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte.
Johanna schüttelte den Kopf: „Ganz bestimmt nicht. Ich werde schweigen. Versprochen. Bist du wirklich das Mädchen von dem Bild?“
„Ja, bin ich.“ Das Mädchen wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Du darfst keiner Menschenseele von mir erzählen, sonst kommen sie mich holen!“
„Wer sind Sie?“
„Die fünf Familien. Sie sind böse. Alle! Bis auf Pascal. Er hat mich aus meinem Verlies befreit.“
Johanna riss die Augen auf: „Pascal Hennes? Der Mann, der seit kurzem hier wohnt?“
Magdalena nickte: „Er hat den Fluch gebrochen, der auf mir lag. Er hat mich befreit. Aber ich kann Silberberg nicht verlassen, weil in meinem Herzen die kalte Flamme brennt.“ Sie begann Johanna eine haarsträubende Geschichte zu erzählen.
„Ach du lieber Gott!“, rief Johanna, nach dem Magdalena zu Ende erzählt hatte. „Es ist also alles wahr, was die Leute hinter vorgehaltener Hand erzählen. Nichts davon ist ausgedacht. Oh Mann! Das ist ja grauenhaft! Du warst die ganze Zeit da unten in dem geheimen Gang eingekerkert! Wie können Eltern nur so grausam sein!? Das ist entsetzlich!“ Johanna war fassungslos. „Wenn Pascal nicht zufällig diesen versteckten Gang gefunden hätte, würdest du bis ans Ende aller Tage gefesselt da unten im Verlies schmachten. Oh Gott! Das ist …“
„Johanna? Bist du da oben?“
Johanna schrak zusammen. „Meine Mutter!“, flüsterte sie. „Versteck dich! Sie darf dich unter keinen Umständen sehen! Ich komme später wieder, vielleicht erst morgen. In Ordnung?“
„In Ordnung“, sagte Magdalena ganz leise.
Johanna rannte die Treppe hinunter. Ihre Mutter stand unten. „Mit wem hast du geredet?“, fragte sie.
„Mit dem Geist, der hier rumspukt“, antwortete Johanna und grinste dazu. „Es ist gar kein böses Gespenst. Es ist ein total netter und freundlicher Geist. Wir spielen Dame miteinander.“
Ihre Mutter lachte laut los. „Ich dachte wirklich, dich mit einem anderen Mädchen reden zu hören“, prustete sie. „Das klang total echt.“
„Weil es echt ist!“, rief Johanna übermütig. „Ich habe mich mit einem Geist unterhalten.“ Sie veränderte ihre Stimme: „Es ist ein Geistermädchen, das so alt ist wie ich. Da sie ein Geist ist, ist sie natürlich viel älter. Über hundert Jahre älter. Trotzdem ist sie zehn Jahre alt, genau wie ich.“ Bei jedem Satz veränderte Johanna die Stimme ein wenig.
Ihre Mutter lachte noch lauter. „Gott, das ist zum Schießen! Ich wusste nicht, dass du so gut Stimmen imitieren kannst. Das war eine bühnenreife Vorstellung. Weiß Pascal Hennes von diesem famosen Hausgeist?“
„Natürlich“, rief Johanna. Diesmal ließ sie ihre Stimme etwas tiefer und rauer klingen. „Er ist ja selber ein Geist. Hast du das denn noch nicht bemerkt? Er kann durch Wände sehen. Die Leute vom Geheimdienst haben Apparate eingebaut, mit denen man durch geschlossene Wände sehen kann. Der Codename dieser Apparate lautet: F-E-N-S-T-E-R.“
Ihre Mutter wollte sich ausschütten vor Lachen. Es dauerte mehrere Minuten bis sie sich wieder einkriegte.
„Nein, im Ernst, Mutti“, sagte Johanna mit ihrer eigenen Stimme. „Ich bin allein im Haus rumgelaufen. Ich habe mit mir selbst geredet, um mir Mut zu machen und habe auf mein Herz gehört. Ich fand das Herrenhaus immer unheimlich. Aber es ist bloß ein altes Haus. Ich habe keine Angst mehr. In Zukunft komme ich allein her und sehe nach dem Rechten. Zum Gießen der Pflanzen brauchst du nicht mitzukommen, bloß an deinem regulären Putztag.“
„Das nenne ich Arbeitserleichterung“, meinte ihre Mutter. „Danke für deine Hilfe. Du kannst dann ja immer ein bisschen mit dem Gespenst spielen.“
„Mache ich“, sagte Johanna. Sie grinste. „Wir spielen Dame. Bisher habe ich alle Partien gewonnen, weil Papa mir so viele Tricks beigebracht hat.“
„Dann viel Spaß“, sagte ihre Mutter lächelnd. „Ich werde Herrn Hennes Bescheid sagen, dass du dich um seine Pflanzen gekümmert hast. Vielleicht zahlt er dir ein Taschengeld dafür.“
Das wäre nicht übel“, sagte Johanna. „Geld ist eine feine Sache und wird immer wieder gerne genommen.“
*
Pascal war zurück. Magdalena freute sich. Sie hatte sich ohne den Mann sehr allein und verlassen gefühlt. Sie hatte das Gefühl, immer in Pascals Nähe sein zu müssen. Er hatte sie schließlich aus ihrem unterirdischen Gefängnis befreit. Sie war frei, sich im Dorf und der näheren Umgebung zu bewegen. Nur die Grenze konnte sie nicht überschreiten. Tatsächlich war sie in der ersten Nacht nach Pascals Abreise spätabends im Dunkeln aus Silberberg hinausgeschlichen und war so lange durch den Wald gelaufen, bis sie die Nähe der Grenze spürte. Diese Grenze konnte sie nicht überschreiten, wollte sie nicht riskieren, dass die kalte Flamme in ihrem Herzen erlosch, was ihren sofortigen Tod bedeutet hätte. Es war die kalte Flamme, die der Fürst der Dunkelheit vor Jahrhunderten in ihr Herz gepflanzt hatte, die sie auf ewig am Leben hielt. Bis zum jüngsten Tag.
Früher hatte Magdalena sich oft gewünscht, die Flamme möge erlöschen, damit sie aus der grausamen Herrschaft des dunklen Fürsten erlöst würde. Alle Mädchen, die in den Gängen unter Silberberg eingeschlossen waren, wünschten sich das. Sie wollten frei sein und sterben dürfen, frei von der Macht des grässlichen Dämons. Dann hätten sie nicht länger Hunger und Durst leiden müssen. Der ständige brennende Durst war am schrecklichsten. Es war absolut unerträglich.
Doch jetzt war alles anders. Pascal hatte Magdalena befreit und sie bei sich aufgenommen. Magdalena erinnerte sich ganz genau an den ersten Abend, als der Mann ihr einen Gute Nachtkuss gegeben hatte. Sie war vollkommen fassungslos gewesen. So etwas hatte sie Zeit ihres Lebens nicht erlebt. Ganz seltsam war ihr zumute gewesen. In ihrem Inneren hatte sich etwas geregt. Es fühlte sich an, als ob etwas aufgerissen wurde. Es tat weh, aber es war ein süßer Schmerz. Ganz warm war ihr im Herzen geworden. Und wenig später hatte Pascal sie umarmt und gedrückt und ihr gesagt, er habe sie lieb. Dabei war wirklich etwas in ihrem Inneren entzweigerissen und eine Wärme hatte ihr Herz erfüllt, dass sie beinahe weinen musste.
Seitdem war alles anders. Die kalte Flamme war nicht erloschen, aber sie war kleiner geworden, irgendwie schwächer. Ein wenig kleiner. Etwas war in ihrem Herzen aufgeblüht, an sanftes Glühen, das langsam wuchs. Es dauerte eine Zeit lang, bevor Magdalena verstand, was passierte. In ihrem Herzen entstand eine weitere Flamme und diese Flamme war warm! Noch war es ein winziges, schwaches Glimmen, doch sie konnte deutlich fühlen, wie dieses schwache Glimmen die Kälte aus ihrem Inneren zu vertreiben begann und das Schönste dabei war, dass der dunkle Fürst in seiner momentanen Schwäche nichts davon merkte.
Magdalena war froh. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich glücklich.
Und da war noch etwas. Sie hatte seit neuestem ein Geheimnis. Dieses Geheimnis trug den Namen Johanna. Sie hatte sich mit dem Mädchen aus einer weltlichen Familie angefreundet. Sie trafen sich heimlich irgendwo draußen, meistens an einer Stelle im Wald, wo es eine kleine Quelle gab. Dann saßen sie zusammen und erzählten einander aus ihrem Leben. Manchmal brachte Johanna ein Damebrett mit und sie spielten einige Partien. Samstags und sonntags trafen sie sich im alten Hof von Alba Dahl. Am Wochenende arbeitete niemand an dem alten Bauernhaus und die Mädchen hatten das große Haus für sich allein. Magdalena konnte ja ohne Probleme in den Hof gelangen. Sie benutzte einfach den unterirdischen Gang. Sie ließ Johanna dann durch die Hintertür herein.
Magdalena mochte das Mädchen aus dem Dorf sehr. Sie hatte noch nie eine Freundin gehabt. Magdalena fühlte sich wohl. Sie hatte lediglich ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, dass sie Pascal nichts von den anderen eingesperrten Mädchen gesagt hatte. Unter Silberberg gab es viele weitere Gefangene. Magdalena hatte Angst, es zu sagen. Was würde Pascal tun, wenn er davon erfuhr? Versuchen, alle zu befreien? Das war gefährlich. Vielleicht würde der dunkle Fürst etwas merken, wenn alle Opfer befreit wurden und die fünf Familien konnten dahinterkommen und Pascals Leben bedrohen.
Nein, dachte Magdalena, ich darf Pascal nichts erzählen. Doch es betrübte sie, dass sie nichts für die Erlösung der anderen Mädchen tun konnte.

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