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Geschrieben von Stefan Steinmetz am 20.10.2024 um 09:15:

Wenn der Rote Hahn kräht(20)

Sie grillten hinterm Herrenhaus. Pascal hatte einen Grill und Gartenmöbel angeschafft. Zieglers waren zu Besuch. Sie hatten Lukas mitgebracht. Als die Würste und Putenschnitzel auf dem Grillrost brutzelten, wandte sich Lukas an Pascal: „Was ist mit deinem Geistermädchen?“
Pascal grinste. „Oh, die hat sich sehr gefreut, als ich wieder da war. Sie war ja die ganze Zeit allein. Weißt du, auch Geister fürchten sich, wenn sie allein sind im Dunkeln.“
„Kommt sie nicht zum Grillen?“, fragte Lukas.
Pascals Grinsen verbreitete sich: „Geister essen nichts. Schließlich sind sie Geister. Außerdem ist sie schrecklich schüchtern. Wenn Besuch da ist, versteckt sie sich im Keller. Ihre Schüchternheit macht ihr echt zu schaffen In der Geisterschule hat sie im Fach Gruselig-Spuken bloß eine Vier minus bekommen.“
Lukas lachte laut. „So ist das also“, meinte er gutgelaunt. „Schade. Ich hätte gerne mit deinem Gespenst gespielt. Spielt sie denn manchmal mit dir?“
Pascal nickte: „Oft. Sie spielt gerne Dame.“
„Das tue ich auch“, sagte Lukas. „Soll ich rüber zu unserem Haus gehen und mein Damespiel holen?“
„Lukas!“, schalt Ulrike Ziegler. „Jetzt hör aber auf! Lass Pascal in Frieden.“
„Och! Wo er mir doch so viel von seinem Hausgeist erzählt hat. Ich möchte zu gerne mal ein richtiges Gespenst sehen.“
„Und wenn sie sich unsichtbar machen kann?“, fragte Pascal todernst. „Kann ja sein, dass sie von niemandem gesehen werden will außer von mir.“ Er beugte sich nach vorne: „Vielleicht steht sie ja jetzt gerade neben dir und schaut dich an?“
Lukas fuhr auf. Hastig sah er sich nach allen Seiten um. Alle lachten.
„Gib es auf, Lukas“, meinte sein Vater mit gutmütigem Sport. „Pascals Geist ist dir über. Da kannst du leider nichts machen.“
*
Pascal und Rebekka übernachteten in Rebekkas Haus. Rebekka hielt sich nicht gerne im Herrenhaus auf. Pascal konnte das gut verstehen. So oder so war es ihm egal, wo er die Nacht verbrachte. Sie hatten gerade ein schönes Schäferstündchen miteinander verbracht und lagen zufrieden nebeneinander.
„Wird Zeit, dass Albas Haus fertig wird“, sagte Pascal. „Das ständige Hin und her ist unbequem.“
„Wann soll es denn so weit sein?“, fragte Rebekka.
„Arno Brill hat gesagt, noch vor Weihnachten. Wenn ich Glück habe, wird das Haus sogar noch viel früher fertig. Es kommt halt drauf an, ob er die richtigen Handwerker zur richtigen Zeit bekommen kann.“
„Weihnachten, das ist noch lange hin“, meinte Rebekka.
„Sobald unser Boot fertig ist, gehen wir nach England“, sagte Pascal. „Dort vertreiben wir uns die Zeit bis zum Einzugstermin. Dann sind wir die Familien los und keiner geht mir auf den Wecker mit dauernden Glückwünschen und Einladungen. Grillen mit Zieglers reicht mir völlig. Die gehen einem wenigstens nicht auf die Nerven.“
„Das heute Nachmittag war ja wohl ein Scherz“, sagte Rebekka. „Als du Lukas von deinem Hausgeist erzählt hast, hat das fast wie echt geklungen.“
Pascal schwieg.
Rebekka wandte ihm das Gesicht so: „Pascal?“
Schweigen. Sie richtet sich auf dem Ellbogen auf: „Pascal? Was ist los?“
Seine Antwort kam nach langem Zögern: „Das war kein Scherz.“
„Wie bitte?“ Rebekka schüttelte den Kopf. „Ich habe mich wohl gerade verhört.“
„Hast du nicht, Rebekka.“
Sie starrte ihn an. „Pascal, was sagst du da? Willst du etwa behaupten, dass im Herrenhaus ein Gespenst umgeht?“
„Behaupten tu ich überhaupt nichts. Es ist eine Tatsache. Sie ist dort. Sie war immer da.“
„Sie? Wer?“
„Magdalena Hennes.“
„Das Mädchen von dem Gemälde, das Johanna Friedmann immer so gerne anschaut?“
„Genau die.“
Rebekka gab ein kleines, verunglücktes Lachen von sich. „Pascal, dieses Mädchen ist seit rund vierhundert Jahren tot!“
„Ist sie nicht“, gab er zurück. „Ich habe sie in einem geheimen Gang gefunden, der den Keller des Herrenhauses mit dem Keller von Albas Hof verbindet. Man hat sie lebendig eingemauert.“
„Was?!?“ Rebekkas Stimme klang wie ein Möwenschrei. In ihrem Gesicht spiegelte sich purer Unglauben. „Du willst mich wohl vergackeiern!“
Pascal schüttelte den Kopf. „Tu ich nicht. Rebekka, ich sage die Wahrheit. Ich habe im Keller des Herrenhauses ein Regal umgeschmissen und das hat beim Umkippen den Putz an der Wand aufgerissen. Dahinter befand sich eine mit Ziegeln zugemauerte Öffnung.“ Pascal begann zu erzählen.
Rebekka hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen.
„Jesus Christus!“, sagte sie, als Pascal mit erzählen fertig war. Ihr Gesicht hatte eine ungesunde Farbe angenommen. „All die wilden Gerüchte …! Es ist also alles wahr?!? Das … das ist … unfassbar!“
„Ich konnte das auch nicht glauben“, sagte Pascal. „Aber ich habe zugesehen, wie das kleine Mädchen in dem Alkoven die Augen öffnete und dann sprach es mit mir. Der geheime unterirdische Gang existiert, Rebekka. Ich kann ihn dir morgen zeigen.“
Rebekka biss sich auf die Unterlippe. „Die unterirdischen Gänge … Urgroßmutter Alba hat mich davor gewarnt. Dort sei es gefährlich, sagte sie. Ich dürfe nie einen solchen Gang betreten. Sie sind verschlossen worden. Seit dem Erdbeben von 1891 herrscht Einsturzgefahr. Alba sagte, die Leute aus den fünf Familien betreten die Gänge nie. Aber … sie sagte auch, es gibt keinen besseren Platz, um etwas zu verstecken, denn die fünf Familien gehen nie dorthin, sobald ein solcher Gang verschlossen wurde. Sie sind für sie tabu.“
„Morgen zeige ich dir den Gang“, sagte Pascal. Er schaute Rebekka an: „Und ich mache dich mit Magdalena bekannt. Du darfst mit niemandem über sie sprechen. Wirklich mit niemandem!“
*
Sie betraten das Herrenhaus. Sie hatten bei Rebekka zu Hause gefrühstückt und waren dann zum alten Herrenhaus gefahren. Wie immer hatten sich hier und da hinter den Fenstern der Häuser der fünf Familien Gardinen bewegt. Diese „Überwachung“ ging Pascal allmählich auf die Nerven. Je öfter er sich beobachtet fühlte, desto mehr wünschte er sich, von Silberberg fortzukommen. Es gefiel ihm nicht mehr besonders in diesem Dorf. Nicht, seit er Magdalena kennengelernt hatte.
Er hielt vorm Herrenhaus und sie gingen.
Großvater und Vater hatten Recht mit ihren Warnungen, dachte er, während sie ins Haus gingen. Silberberg ist kein guter Ort. Aber ich kann nicht weg. Ich bin per Testament verpflichtet, hier meinen Erstwohnsitz zu haben. „Aber …“ Er sprach das Wort laut aus.
Rebekka schaut ihn von der Seite aus an. „Was?“
„Ach. Nichts. Ich dachte nur gerade …“
„An was?“, fragte sie.
„Wie ich hier raus könnte“, antwortete er. „Weg von Silberberg. Aber ich könnte Magdalena nicht mitnehmen. Sie kann die Grenze nicht überschreiten. Ich stelle sie dir jetzt erst mal vor.“
Pascal rief nach Magdalena. „Magdalena? Ich habe jemanden mitgebracht. Du brauchst keine Angst zu haben.“ Er nahm Rebekka an der Hand und führte sie zu dem Raum mit den Gemälden. Mitten im Raum stand ein zehnjähriges Mädchen in Jeans und einem dunkelblauen Sweater. Es hatte dunkelblonde Haare und blaue Augen.
Rebekka schlug die Hand vor den Mund: „Mein Gott! Sie ist es! Sie ist es tatsächlich!“
„Ja“, sagte Pascal. „Das ist Magdalena Hennes, das Mädchen, das auf dem Gemälde abgebildet ist. Sie wurde in der letzten Nacht des Jahres 1631 lebendig eingemauert, als Opfer für einen Dämon, der versprochen hatte, die fünf Familien reich zu machen. Eltern gaben ihr Kind her für schnödes Silber.“
„Mein Gott!“, hauchte Rebekka. „Das ist unfassbar!“
Magdalena stand ganz still da. Sie sah nur zu ihnen hin, ohne ein Wort zu sagen.
Rebekka fasste sich ein Herz. Sie ließ Pascals Hand los und trat zu den Mädchen hin. „Hallo Magdalena“, sagte sie.
„Guten Tag“, sagte das Kind. Seine Stimme klang völlig normal.
Rebekka hob die Hand. Ganz langsam streckte sie den Arm aus, bis ihre Hand Magdalenas Wange berührte. „Du existierst wirklich! Du bist aus Fleisch und Blut“, flüsterte sie. „Du bist nie gestorben. Pascal hat es mir gesagt. Er hat mir alles über dich erzählt. Du warst fast vierhundert Jahre in einem unterirdischen Verlies eingekerkert. Armes Mädchen!“ Sie streichelte Magdalenas Wange.
Das Mädchen hielt still. Sie ließ es sich gerne gefallen.
„Du nimmst es ziemlich gefasst auf“, meinte Pascal. „Ich war viel erschrockener.“
„Dich hat ja keiner vorbereitet“, gab Rebekka zurück. Sie fasste Magdalena sanft an der Schulter: „Kommst du bitte mal ans Fenster? Ich möchte deine Augen besser sehen können.“
Magdalena wandte sich um und lief zum Fenster.
Rebekka stieß einen kleinen Schrei aus. „Pascal, sieh doch! Sie … Sie hat keinen Schatten!“
Pascal sah genauer hin. Er musste schlucken. Magdalena stand vorm Fenster. Sie hatte keinen Schatten.
Das Mädchen schaute sie aus großen Augen an. „Das ist der Fluch, der auf mir lastet“, sagte sie leise. „Die kalte Flamme hat mit den Schatten geraubt.“
Rebekka trat zu Magdalena. „Den Schatten geraubt. Das ist, als hätte man dir die Seele genommen.“
Magdalena schüttelte den Kopf, ganz langsam tat sie es. „Nein. Meine Seele hat der Fürst der Dunkelheit nie bekommen. Er kann nur meinen Körper gefangen halten. In dem Moment, in dem die kalte Flamme in mir erlischt, ist meine Seele frei und ich kann in Gottes Ewigkeit eingehen.“ Das Mädchen lächelte traurig. „Meine Seele ist in meinem Körper gefangen, aber sie gehört mir. Der Dunkle wird sie nicht bekommen. Er kann sie sich ansehen und die Hand danach ausstrecken. Mehr nicht. Aber das allerbeste ist, dass ich keinen Hunger und keinen Durst mehr habe. Vorher war es entsetzlich. Ich habe so gelitten. Oft habe ich tagelang geschrien in meinem Verlies. Ich habe geheult wie ein Tier und um Wasser gebettelt.“
„Du Armes“, sagte Rebekka. Spontan schloss sie Magdalena die Arme. Die ließ sich das gerne gefallen.
Rebekka blickte Pascal über Magdalenas Kopf an: „Jahrhundertelang eingemauert und der Macht eines Dämons ausgeliefert. Sie ist jahrhundertelang verdurstet und verhungert, eine nicht enden wollende Qual. Zeig mir den Ort, wo sie eingesperrt war.“
Pascal besorgte Stirnlampen für sie alle. Er ging in den Keller voraus. Er zeigt Rebekka den Schrank an der Wand: „Sieht völlig unverfänglich aus, was? Drüben im Keller von Albas Haus steht auch ein Schrank vor dem Stolleneingang.“ Er grinste: „Jetzt weißt du, warum in beinahe jedem Keller der Welt ein alter Schrank rumsteht.“ Er schloss den Schrank auf. „Man kann von innen einen Riegel vorlegen, wenn man den Geheimgang benutzt, um zum Bauernhaus zu gelangen.“
Sie betraten nacheinander den Gang. Pascal führte sie zu dem unterirdischen Raum, wo sich in der Stollenwand der kleine Alkoven befand, in den man Magdalena lebendig eingemauert hatte.
Rebekka starrte in die kleine Nische. „Gott im Himmel! So eng! Da drin war sie Jahrhunderte eingesperrt.“
„Sie war an Händen und Füßen gefesselt“, sagte Pascal. „Mit Schnüren, in die Silberdraht eingeflochten war.“
„Jesus“, flüsterte Rebekka. Sie stützte sich an der Stollenwand ab und bückte sich in den Alkoven: „Da liegen die Schnüre. Ich kann …“ Sie zögerte. Sie richtete sich halb auf und drückte die Hand, mit der sie sich an der Stollenwand abgestützt hatte, fester an die Ziegelwand. „Das ist doch …“ Sie drückte und ruckte. Dann richtete sie sich vollends auf. Sie betrachtete einen einzelnen Ziegel, drückte mit dem Finger darauf: „Hier ist was lose!“ Sie rüttelte an dem Ziegel. „Der ist nicht fest eingemauert. Den kann man …“ Sie versuchte, den Ziegel herauszuziehen.
„Lass mich mal“, sagte Pascal. Er holte sein Taschenmesser hervor und klappte es auf: „Opas Taschenmesser kommt zum Einsatz. Wieder einmal. Damit habe ich schon Magdalenas Fesseln aufgeschnitten.“ Er steckte die Spitze der Messerklinge in die Lücke über dem losen Ziegelstein und hebelte ihn ein kleines Stückchen heraus. Immer wieder setzte er die kleine Klinge an, mal links und mal rechts. Stückchen für Stückchen kam der lose Ziegel aus der Wand heraus, bis Rebekka ihn mit den Fingerkuppen fassen und ganz herausziehen konnte.
Sie schaute in die freigewordene Öffnung: „Da steckt was drin.“ Sie griff in das Loch an der Wand und zog zwei Dinge heraus: ein kleines in Leder gebundenes Buch und ein Heft. Sie betrachtete das Heft: „Pascal! Weißt du was das ist? Das ist das Vermächtnis meiner Urgroßmutter! Sie hat es vor ihrem Tod hier unten versteckt. Jetzt verstehe ich, was sie meinte, als sie sagte, in den geheimen Gängen könnte man etwas gut vor den fünf Familien verstecken. Die betreten keine zugemauerten Gänge!“
Sie warf einen Blick auf Magdalena: „Was mich nicht wundert. Sie haben Angst, dass die eingesperrten Kinder ihre Geisterhände nach ihnen ausstrecken, wenn sie einen versiegelten Gang betreten. Es muss Dutzende solcher Gänge unter Silberberg geben. All die vielen Opfer über die Jahrhunderte …!“
In diesem Moment wusste Pascal, was er immer am Rande seines Wahrnehmungsfeldes gespürt hatte. Die anderen Mädchen! Aber natürlich! Es war doch die Rede von vielen Opfern! Alle soundso viele Jahre war ein Mädchen aus den Familien verschwunden. Weitere Opfer!
„Die sind alle hier unten“, sagte er mit heiserer Stimme. „Unter Silberberg! Lebendig eingemauert!“ Er schaute Magdalena an: „Stimmt‘s? Du bist nicht die Einzige? Es gibt noch mehr eingemauerte Mädchen.“
Magdalena nickte. „Ich weiß nicht, wie viele, aber es gibt noch mehr Opfer. In ihren Herzen brennt die kalte Flamme und erhält sie am Leben, damit sich der Fürst der Dunkelheit an ihrem Leiden laben kann.“
Pascal schluckte hart. „Dieses verfluchte Dorf ist wahrscheinlich total unterhöhlt und überall sind kleine Mädchen eingemauert.“
Rebekka erschauerte. „Ich will hier weg, Pascal! Raus aus diesem verfluchten Gang! Hier ist es unheimlich.“
„Lass uns zu Albas Haus gehen“, sagte Pascal. „Es ist Sonntag, da arbeitet niemand im und am Haus. Wir schauen uns das Vermächtnis deiner Urgroßmutter dort in Ruhe an. Die Küche ist ja bereits fertig restauriert und eingerichtet.“

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