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Wenn der Rote Hahn kräht(23)
Sie hatten sich im Haus von Adam Stolz zusammengefunden. Sämtliche Familienälteste waren dem Ruf von Julius Theiß gefolgt. Nun lauschten sie atemlos dem Bericht, den Julius zum Besten gab.
„Das ist ungeheuerlich!“, rief Adam Stolz, nachdem Julius alles erzählt hatte. „Wie konnte das geschehen? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit! Der Alkoven war versiegelt. Dieses Siegel ist unüberwindbar. Man kann diese Mauern nicht so einfach mit einem Pickel öffnen.“
„Es sei denn, Pascal hat beim ersten Schlag ausgerechnet mitten in das Pentagrammzeichen gehackt“, sagte Harald Köhler.
„Woher hätte er das wissen können?“, fragte Simon Dahl. „Dieses Wissen haben nur Eingeweihte.“
„Purer Zufall“, gab Harald zurück. „Nichts als Zufall.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann es immer noch nicht recht glauben. Bist du dir ganz sicher, Julius?“
„Zu hundert Prozent“, antwortete der Familienälteste. „Die Tochter von Agnes Friedmann hat Details genannt. Zum Beispiel dass das Mädchen keinen Schatten hat. Heißt es nicht: Der Dunkle nimmt sich ihren Schatten? Die kleine Friedmann hat nicht gelogen. Die hat sich diese Geschichte nicht aus den Fingern gesogen! Pascal Hennes hat das erste Opfer an den Fürsten der Dunkelheit befreit. Ein ungeheuerlicher Frevel! Es braucht eine Wiedergutmachung! Das Opfer muss dem Fürsten der Dunkelheit zurückgegeben werden, sonst erreichen wir nie eine Umkehr. Dann werden die alten Zeiten niemals mehr wiederhergestellt. Verdammt! Es sah alles so gut aus. Als Pascal und Rebekka zusammenkamen, schien alles in bester Ordnung. Wir waren sicher, Pascal auf unsere Seite ziehen können. Und jetzt das! Wenn er herausgefunden hat, wer Magdalena ist, wird er gewiss gegen uns eingestellt sein. Es wird nicht leicht sein, ihn zu überzeugen, sich jetzt noch auf unsere Seite zu stellen.“
„Er muss!“, rief Julius Theis. „Da gibt es kein Wenn und Aber!“
„Wir müssen mit ihm reden“, sagte Adam Stolz. „Wir kommen nicht darum herum. Lasst es uns gleich tun. Die Sache duldet keinen Aufschub.“
„Was ist, wenn er sich nicht überzeugen lässt?“, fragte Harald Köhler. „Was, wenn er sich gegen die Familien stellt?“
Adam Stolz sah die Männer um sich herum an: „Dann gibt es nur noch eine letzte Lösung. Ihr wisst, was ich meine.“
*
Pascal saß hinterm Herrenhaus. Bei dem schönen Wetter mochte er nicht drinnen bleiben, auch weil er das Herrenhaus mit jedem Tag, der verging, weniger mochte. Er hatte eine große Abneigung gegen das Haus entwickelt. In diesem Haus hatte das ungeheuerliche Verbrechen seinen Anfang genommen. Das Haus war verflucht und besudelt von der Verderbtheit und Gottlosigkeit der fünf Familien. Es war ein Teufelshaus.
Vom Haus ertönte ein Ruf: „Pascal? Bist du da?“
Pascal verdrehte die Augen. Es war die Stimme von Adam Stolz. Was wollte der Kerl schon wieder von ihm? In bequatschen, in der Ukraine ein Kind zu bekommen? Damit ihr es, wenn es ein Mädchen wird, zu gegebener Zeit unter der Erde einmauern könnt, was? Nicht mit mir, mein Bester!
Er stand auf, um ums Haus herum nach vorne zu gehen, da kamen sie bereits zu ihm. Sie waren einfach eingedrungen. Alle Familienältesten waren gekommen: Adam Stolz, Julius Theiß, Harald Köhler, Simon Dahl und Dieter Hennes.
„Guten Tag, Pascal“, sagte Adam. „Hast du einen Moment Zeit für uns? Wir müssen dringend mit dir reden, mein Junge.“
Mein Junge! Da war er wieder, dieser gönnerhafte Tonfall, den Pascal auf den Tod nicht ausstehen konnte. „Worum geht es?“
„Ich will gleich zur Sache kommen, mein Junge“, sagte Adam. „Pascal, wir wissen, dass du unten in einem der alten Gänge warst und ein Siegel aufgebrochen hast. Du hast deine Nase in Dinge gesteckt, die dich nichts angehen. Du hast eins der Opfer freigelassen! Rede nicht dagegen! Wir wissen Bescheid!“ Adam trat einen Schritt auf Pascal zu: „Pascal, was du getan hast, war ein Frevel! Du hast etwas befreit, dass für alle Zeiten weggeschlossen bleiben muss! Es droht Gefahr! Du glaubst vielleicht, du hättest ein kleines Mädchen aus seinem Kerker befreit, aber das ist kein kleines Mädchen. Das ist sie nur der Gestalt nach, Pascal! In Wirklichkeit haben unsere Vorfahren vor Jahrhunderten eine Bedrohung unter der Erde eingeschlossen, damit diese Bedrohung nie mehr über Silberberg kommen kann. Diese … Geistererscheinung ist gefährlich, Pascal! Sie muss schnellstens wieder unter die Erde gebannt werden, sonst sind wir alle in großer Gefahr.“
„Ach tatsächlich?“ Pascal fühlte Wut in sich aufsteigen, als er die verlogenen Worte des Familienältesten hörte. „Große Gefahr? Klar Adam, verstehe. Und die Erde ist eine Scheibe. Hör auf, dich zu verstellen! Ich weiß genau Bescheid.“
„Weißt du nicht!“, rief Adam. Sein Gesicht nahm Farbe an. „Pascal, was dieses Dämonenwesen dir erzählt hat, waren Einflüsterungen! Es ist ein teuflisches Wesen! Es kennt nur Lug und Trug. Es wird Unglück über dich und die Deinen bringen. Es wird nicht ruhen, bis es dir größten Schaden zugefügt hat. Dazu muss es sich dein Vertrauen erschleichen. Bist du in diese Falle getappt, schnappt sie zu. Pascal, hör mich an! Dein Leben ist in Gefahr!“
„Du solltest dich hören, Adam“, sagte Pascal. Er musste sich Mühe geben, nicht laut loszubrüllen. Er hielt sich eisern unter Kontrolle, doch innerlich kochte er vor Wut. „Dein Auftritt gerade war filmreif. Spar dir die Mühe. Wie ich bereits sagte: Ich weiß Bescheid. Dieses arme Kind wurde vor Jahrhunderten einer dämonischen Lebensform geopfert, weil die fünf Familien sich von diesem Opfer Macht und Reichtum erhofften. Diese Hoffnung hat sich tatsächlich erfüllt. Nicht Magdalena ist dämonisch, sondern die Wesenheit, der sie als Opfer dargebracht wurde.“
Julius Theiß trat neben Adam Stolz: „Pascal, misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen. Du bringst uns alle in Gefahr. Dieses Mädchen darf nicht frei sein! Es muss dem Fürsten zurückgegeben werden und zwar schnellstens! Sie gehört IHM. Er wird sehr ungehalten sein, wenn er zum Jahreswechsel wiederkommt. Das Opfer muss in sein Verlies zurückgebracht werden. Dir bleibt keine Wahl. Wenn du nicht riskieren willst, dass ganz Silberberg eine Katastrophe erlebt, musst du mit uns kooperieren.“
Adam trat zu Pascal. Er legt ihm eine Hand auf die Schulter: „Ich kann verstehen, wie du dich fühlst, Pascal. Das ist ja verständlich. Weil du dich nicht auskennst. Du weißt nicht um die Gefahr, die von diesem Wesen ausgeht, dass du aus seinem unterirdischen Verlies herausgelassen hast. Aber dieses … dieses Etwas muss zurück in seinen ewigen Kerker. Überlege dir gut, auf wessen Seite du stehen solltest. Halte zu uns, wenn du leben willst! Dir bleibt keine Wahl, mein Junge. Es geht leider nicht anders. Wir kommen übermorgen wieder. Dann wollen wir deine Entscheidung hören. Ich vertraue auf deinen Verstand, Pascal. Bis dann.“
Die fünf Männer drehten sich um und gingen nach vorne zur Straße. Pascal schaute ihnen nach. Er hätte am liebsten Steine hinter ihnen hergeworfen.
Eine leise Stimme ertönte hinter ihm: „Sind sie weg?“
„Ja. Du kannst rauskommen.“ Die Hintertür öffnete sich und Rebekka kam aus dem Haus. Sie war kreidebleich. „Ich habe jedes Wort mit angehört“, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. „Die glauben doch nicht selbst an den Mist, den sie da von sich gegeben haben. Alles Lüge, sage ich!“
„Natürlich war alles gelogen“, gab Pascal ihr Recht. „Magdalena stellt keine Gefahr dar. Jedenfalls nicht für uns. Für die schon, denke ich. Wenn dieser Dämonenfürst zu Silvester hier in Silberberg aufkreuzt und feststellt, dass sein erstes Opfer ausgebüxt ist, wird er wahrscheinlich ziemlich sauer, schätze ich. Dann droht tatsächlich Gefahr.“
„Was sollen wir tun?“, fragte Rebekka. „Pascal, das darfst du nicht auf die leichte Schulter nehmen! Die sind imstande, im Rudel über uns herzufallen und …“ Sie ließ den Satz offen.
„Wir müssen weg!“, entschied Pascal. „Wir müssen von der Bildfläche verschwinden und zwar sofort! Hier ist es im Moment zu brenzlig.“ Er schaute Rebekka an. „Wir gehen nach England. Dorthin können Sie uns nicht folgen. Sie sind hier in Silberberg eingesperrt. Wir hauen ab und warten, was passiert. Lass uns auf der Stelle alles einpacken, was wir in England brauchen: Klamotten, unsere Computer und sonst alles. Dann verziehen wir uns.“
Rebekka sah ihn zweifelnd an: „Die werden uns nicht einfach so ziehen lassen, glaub mir! Die sind zu allem fähig. Ich habe Angst, Pascal! Wirklich Angst!“
„Lass uns das Auto beladen“, sagte er. „Ich habe eine Idee.“
*
Eine Stunde später ging das Garagentor auf. Pascals stieg in seinen Wagen und ließ den Motor an. Er fuhr los. Der Wagen bockte. Dann starb der Motor ab. Pascal stieg aus. „Verdammt! Was soll das?“, rief er aufgebracht. „Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich muss zum Supermarkt, Herrgott noch mal!“ Er stieg ins Auto und startete den Motor erneut. Er fuhr an, kam aber nicht weit. Als er richtig Gas gab, bockte der Motor schon wieder.
Er stieg aus, holte sein Smartphone heraus und telefonierte. Er unterhielt sich mit jemand aus einer Autowerkstatt in einem Ort, nicht weit von Silberberg entfernt. „Ja, genau!“, rief er. Er fuchtelte mit dem freien Arm. „Ich wollte Einkaufen fahren, da ging es wieder los. Diese dämliche Mistkarre! Das war vor ein paar Tagen schon mal. Sie sind auf Wartung und Reparatur dieser Automarke spezialisiert. Ich bringe meinen Wagen nicht gerne in so eine Null-acht-fuffzehn-Werkstatt. Sie sind eine Vertragswerkstatt, das ist besser. Was? Nein, es war … doch, ja. Ganz genau! Genauso war es. Sobald ich richtig Gas gab, starb der Motor ab. Bitte? Ja, kann ich machen. Kann ich den Wagen heute noch vorbeibringen? Nein, nicht so wichtig. Hören Sie, ich bringe Ihnen die Karre vorbei, dann können Sie morgen früh gleich dran gehen. Einverstanden? Ja sicher. Natürlich bin ich auf den Wagen angewiesen. Ich brauche ihn übermorgen unbedingt! Ich will mit meiner Partnerin in Urlaub fahren. Ja? Tatsächlich? Prima! Ich bringe die Kiste gleich zu Ihnen. Danke, dass ich noch dazwischen rutschen kann. Ja. Vielen Dank. Auf Wiederhören.“
Pascal beendete das Gespräch.
Rebekka kam aus dem Haus: „Was ist los?“
Er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Der Wagen macht Zicken. Genau das gleiche wie vor zwei Tagen. Sobald man richtig Gas gibt, stottert der Motor oder er geht aus. Ich muss ihn in die Werkstatt bringen. Die Kiste muss schließlich funktionieren, wenn wir übermorgen losfahren wollen. Ich bring den Wagen zur Werkstatt und komme mit dem Taxi zurück. Die haben zugesagt, sich das Auto gleich morgen früh vorzunehmen.“ Er umarmte Rebekka und küsste sie. „Ich muss los. Ich bin bald zurück. Fang schon mal an, die Taschen für unsere Reise zu packen.“
Er stieg ins Auto und fuhr los. Direkt vorm Haus auf der Straße starb der Motor ab. Man sah Pascal hinter der Windschutzscheibe fluchen. Er startete den Wagen und fuhr los, diesmal sehr langsam und vorsichtig. Bald verschwand das Auto hinter einer Straßenbiegung.
Rebekka kehrte ins Haus zurück. Sie tat, als hätte sie die Gestalt nicht gesehen, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter eine dichte Hecke duckte. Ein Spion der Familie, dachte sie. Wie schön. Dann hat Pascal die Schau nicht umsonst abgezogen.
*
Sie saßen im Wohnzimmer zusammen.
„Der Wagen steht draußen außerhalb der Grenze bereit“, sagte Pascal. „Wir gehen natürlich nicht erst übermorgen weg. Das war eine Finte, gedacht für den Spion hinter der Hecke. Wir türmen heute Nacht. Sobald es dunkel ist, machen wir uns davon. Wir gehen außen ums Dorf herum, dann sieht uns niemand. Wir müssen raus aus Silberberg. Die Typen, die heute da waren, sind mir nicht geheuer. Denen traue ich alles zu. Menschen, die Kinder als Opfer darbringen, sind zu allem fähig.“
„Darauf kannst du Gift nehmen“, sagte Rebekka. „Nachdem wir Urgroßmutters Vermächtnis gelesen haben, ist nichts mehr, wie es war. Ich glaube, die schrecken auch nicht vor Gewalttaten zurück. Wir müssen hier weg und zwar schleunigst.“
Pascal schaute zu Magdalena hin. Das Mädchen saß klein und zusammengesunken am Tisch. Sie wirkte verängstigt und niedergeschlagen. „Ich kann nicht mitkommen“, sagte sie. Ihre Stimme bebte verdächtig. „Ich kann die Grenze nicht überschreiten. Wenn ich das tue, erlischt die kalte Flamme in meinem Herzen und ich vergehe.“ Sie blickte Pascal an. Blanke Verzweiflung stand in ihren Augen. „Was, wenn sie mich holen kommen?“
„Du musst dich verstecken“, verlangte Pascal. „Nicht im Dorf! Draußen in den Wäldern rund um Silberberg. Kannst du die Grenze fühlen?“ Magdalena nickte. „Gut. Halte dich immer innerhalb der Grenze auf und verstecke dich im Wald, dann kriegen sie dich auf keinen Fall. Rebekka und ich werden einen Weg finden, dich zu beschützen. Wir werden zurückkehren und den Halunken das Handwerk legen. Aber im Moment ist hier der Boden zu heiß für uns. Wir müssen so schnell wie möglich verschwinden. Wie Rebekka bereits sagte: Diesen Leuten ist alles zuzutrauen. Wir sind in Gefahr. Wir können nicht länger hierbleiben. Wenn sich die Wogen geglättet haben, kehren wir zurück. Wir finden einen Weg. Versprochen.“
Magdalena kam um den Tisch herum und warf sich in Pascals Arme: „Lasst mich nicht allein! Bitte nehmt mich mit!“
Pascal drückte sie. „Das geht nicht Magdalena, das weißt du doch. Du bist hier gefangen. Ich verspreche dir, wir werden einen Weg finden, dich aus Silberberg herauszuholen.“ Er gab Magdalena einen Kuss auf die Wange. „Ich habe dich lieb.“
Magdalena hielt sich eine Minute lang an ihm fest. Dann ließ sie los. „Ich gehe jetzt gleich“, sagte sie. „Ich laufe durch den Garten und klettere über den Zaun. Von dort ist es nicht weit bis zum Waldrand. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich sofort verstecke.“
Pascal stand auf und umarmte sie noch einmal. „Pass auf dich auf, Liebes“, sagte er. „Halte dich gut versteckt. Niemand darf dich sehen. Auch keiner von den Weltlichen. Vertraue niemandem.“
„Ist gut“, sagte Magdalena. Sie verließ das Zimmer. An der Tür drehte sie sich noch einmal um: „Kommt ihr wirklich zurück zu mir?“
„Ja“, sagte Pascal. „Wir kommen wieder. Versprochen.“
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