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Wenn der Rote Hahn kräht(27)
Dietmar Kluding, Herbert Lehmann und Helmut Ranker standen mitten in einer bis auf die Grundmauern niedergebrannten Ruine. Sie gehörten zu den Feuerwehrleuten, die ihre Kollegen am frühen Morgen abgelöst hatten. Vor den drei Männern gähnte eine rechteckige Öffnung im Boden. Eine steinerne Treppe führte in den Keller hinunter.
Dietmar kratzte sich am Kinn. „Wir müssen runter und nachsehen. Ihr wisst, was ich meine.“
Seine Kollegen nickten. Sie mussten nachsehen, ob Bewohner des brennenden Hauses in den Keller geflüchtet waren. Wenn es so war, würden sie höchstwahrscheinlich nur halb verkohlte Leichen vorfinden, aber nachsehen mussten sie.
Dietmar Kluding ging voraus. „Sieh sich einer die Kellerdecke an!“, rief er. „Das ist unfassbar! Der Kasten hat lichterloh gebrannt. War ja fast alles aus Holz. Alles ist abgefackelt, aber der Boden vom Erdgeschoss ist bloß leicht angekokelt. Die Kellerdecke ist immer noch da.“ Dietmar schüttelte den Kopf. „Wie kann das sein? Eigentlich müsste auch dieser Boden ein Opfer der Flammen geworden sein. Er ist komplett aus Holz und Jahrhunderte alt. Alles ausgedörrt.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Verstehe einer die Welt!“
„Die Straße rauf auf dem Grundstück von Albert Köhler sieht es genauso aus“, sagte Helmut, „und zwei Straßen weiter bei Dahls ebenfalls.“
„Bei anderen Häusern ist auch der Boden des Erdgeschosses vollkommen weggebrannt“, sagte Dietmar. Er schaltete seine Taschenlampe ein und beleuchtete den Keller. „Vielleicht, weil es ja unten nichts gibt, das brennt. Der Kohlenkeller ist leer. Da ist die Waschküche. Auch nichts, was brennt.“
„Da drinnen stehen Vorratsregale“, meldete Herbert Lehmann. Er leuchtete in einen anderen Kellerraum hinein. „Alles aus Metall.“ Er ging zum nächsten Raum: „Holla, die Waldfee! Ein gefundenes Fressen für ein Feuerchen! Die haben hier unten ihr Grillholz gestapelt. Ein ganzer Raum voll mit kleingehacktem Holz. Schön trocken.“ Herbert kratzte sich am Kinn. „Trotzdem hat hier nichts gebrannt. Seltsam.“
Sie kamen zum letzten Raum unter dem Haus. „Was ist denn das?“ Dietmar leuchtete die Rückwand an. Dort gähnte eine mannshohe Öffnung in der Mauer. Überall lagen Ziegelsteine verstreut. „Sieht aus wie ein alter Stollen, der zugemauert war. Ihr kennt doch die alten Geschichten von den Geheimgängen unter Silberberg. Nun, wie es aussieht, ist was dran an den Erzählungen. Das muss ein Fluchttunnel aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges sein. Sieht man an der Höhe des Ganges. Im Mittelalter waren die Menschen viel kleiner als heutzutage.“ Dietmar schaute seine Kollegen an: „Kann sein, dass die Hausbewohner durch diesen Gang fliehen konnten, als das Feuer sie im Haus einschloss.“
Herbert schüttelte den Kopf: „Nee du. Kann nicht sein.“ Er zeigte zur Kellerdecke: „Da oben gibt es bloß eine Handvoll Kinder, die aus den brennenden Häusern rausgekommen sind. Von den Erwachsenen keine Spur.“
Dietmar trat zu der Öffnung in der Wand: „Dann hat es sie womöglich da drinnen erwischt. Lasst uns nachsehen.“ Er wandte sich an Helmut Ranker: „Du bleibst hier, falls was passiert. Ich habe keine Ahnung, ob dieser Stollen stabil ist. Herbert und ich gehen rein und sehen uns die Sache mal an.“
Er gab Herbert einen Klaps auf die Schulter: „Komm Großer. Ich gehe vor. Trete mir nicht die Hacken runter.“ Dietmar betrat den Gang. „Verdammt eng hier! Zieh den Kopf ein Großer, sonst stößt du ihn dir an.“ Langsam arbeiteten die beiden Männer sich voran. Sie waren etwa zwanzig Meter in den Gang eingedrungen, als er sich zu einem kleinen Raum verbreiterte, groß genug, dass ein Dutzend Leute darin stehen konnten. Ziegelsteine lagen auf dem Boden verstreut.
„Da ist offenbar noch ein zugemauerter Gang“, meinte Dietmar. „Sieht aus, als wäre diese Verschlusswand aus Ziegeln geradezu nach außen explodiert.“ Er leuchtete mit der Lampe. „Oh Gott! Um Himmels willen! Sieh dir das an!“ Im Schein der Lampe erkannte man die Öffnung in der Seitenwand des Stollens. Es war kein weiterer unterirdischer Gang, es war nichts als ein kleiner Alkoven. In der engen Nische kauerte ein kleiner zusammengesunkener Körper.
„Heiliger Strohsack!“, rief Herbert. „Das gibt‘s doch nicht! Das … das ... ist das ein Kind?“
„Sieht so aus“, sagte Dietmar. Er trat zu dem Alkoven. Dort kauerte ein totes Kind am Boden. Der kleine Leichnam war erstaunlich gut erhalten. Noch immer bedeckte Haut das Skelett. Lange dunkle Haare auf dem Kopf wiesen die Tote als ein Mädchen aus. Auch die nur leicht verrottete Kleidung war Mädchenbekleidung. Wo die Augen des Kindes gewesen waren, dräuten leere Höhlen.
„Das ist eine Mumie“, sagte Herbert. „Ich habe im Fernsehen eine Doku über sowas gesehen. Man hat unter einer Stadt in mittelalterlichen Gängen erstaunlich gut erhaltene Leichen gefunden. Die Trockenheit und hat die Toten konserviert, die man in den Gängen beerdigt hat.“
„Dieses Kind wurde nicht beerdigt“, sagte Dietmar. Er hatte plötzlich einen schlechten Geschmack im Mund. „Dieses Kind wurde an Händen und Füßen gefesselt. Man hat es lebend unter die Erde gebracht und eingemauert Gott im Himmel! Wer tut so etwas? Das ist bestialisch!“
„Die fünf Familien waren es“, sagte Herbert. „All die alten Geschichten sind wahr. Wird nicht erzählt, dass alle zehn bis fünfzehn Jahre Kinder verschwinden? Immer sind es kleine Mädchen, acht bis zwölf Jahre alt und es sind immer Mädchen aus den fünf Familien. Frag deine Cousine Astrid. Die weiß eine Menge über die alten Schauergeschichten.“ Er zeigte auf die zusammengesunkene Gestalt dem Alkoven. „Ein Opfer! Man hat die Mädchen einer bösen Macht geopfert. Man hat sie lebendig eingemauert.“
„Die Mädchen?“ Dietmar starrte Herbert an. „Die?!?“
Dietmar zeigt auf das tote Kind. „Es gibt noch mehr solcher Mumien unter Silberberg, da gehe ich jede Wette ein. Die alten Geschichten sind wahr. Nichts daran ist erfunden. Im Laufe der Jahrhunderte wurden immer wieder kleine Mädchen zum Sterben in diesen alten Stollen eingemauert. Gott ist das widerlich! Ich glaub, ich muss kotzen!“
Dietmar holte sein Smartphone heraus und machte einige Fotos von der mumifizierten kleinen Leiche. „Raus hier!“, sagte er. „Wir müssen die Polizei rufen. Es müssen alle Keller der abgefackelten Häuser untersucht werden. Ich denke, man wird eine Menge solcher Stollen entdecken.“
Die beiden gingen. Draußen auf der Straße riefen sie die Polizei an und machten Meldung über den grausigen Fund in dem unterirdischen Gang.
*
Die Neuigkeit machte schnell die Runde im Dorf. Überall, wo es möglich war, stieg die Feuerwehr mit der Polizei in die Keller der niedergebrannten Häuser hinunter und suchte nach Stollen oder zugemauerten Eingängen. Sie wurden oft fündig und als sie in die unterirdischen Gänge eindrangen, fanden sie noch mehr Leichen von Mädchen, die lebendig eingemauert worden waren.
Am Ortsrand, wo es in den Wald zu der aufgegebenen Silbermine ging, entdeckten die Suchtrupps einen großen unterirdischen Raum. Die Höhlung unter der Erde war fast so groß wie das Innere einer Kirche und mit einem Altar und Sitzbänken bestückt. Hier hatten also die Mitglieder der fünf Familien ihre geheimen schwarzen Messen abgehalten.
Leute von Presse und Fernsehen tauchten auf und stürzten sich auf die grausigen Neuigkeiten wie Aasgeier. Abends kam in den Nachrichten, dass in Silberberg eine Teufelssekte seit Jahrhunderten kleine Mädchen einer dämonischen Macht geopfert hatte.
„Zehnjährige Mädchen lebendig eingemauert!“, brüllten tags darauf die Schlagzeilen in den Tageszeitungen. „Die Kindermörder von Silberberg“, und: „Teufelssekte opfert Kinder bei lebendigem Leibe.“
Am späten Nachmittag rollte ein Mietwagen durchs Dorf. Er hielt vor Albas Hof. Hagen und Ulrike Ziegler, die mit zwei Polizeibeamten vor der Ruine des Herrenhauses standen, starrten die Leute, die ausstiegen, an wie eine Erscheinung.
„Pascal! Rebekka!“, rief Ulrike. „Ihr lebt! Wir dachten, ihr seid bei dem Brand ums Leben gekommen.“
„Sind wir nicht“, sagte Rebekka. „Wir konnten entkommen, aber es war knapp. Die wollten uns umbringen.“
„Wir haben es aus den Nachrichten erfahren“, sagte Pascal. „In einer einzigen Nacht sind sämtliche Häuser der Familien niedergebrannt.“
Hagen nickte. „Ja, der Rote Hahn hat auf den Dächern der Teufelsanbeter gekräht. Keiner von denen hat überlebt. Sie sind in ihren brennenden Häuser ums Leben gekommen. Nur eine Handvoll Kinder ist der Feuersbrunst entkommen. Die Leute von Silberberg stehen unter Schock. Man erfährt nicht alle Tage, dass ein paar alte Gruselgeschichten auf Wahrheit beruhen und das alles noch viel schlimmer war, als man es sich hinter vorgehaltener Hand erzählt hat. Der innere Kreis der fünf Familien war nichts als eine Bande von Verbrechern, die in regelmäßigen Abständen kleine Mädchen opferten. Lebendig eingemauert! Man stelle sich das vor! Die Kinder müssen unter entsetzlichen Qualen gestorben sein. Was für eine Angst die Kleinen gehabt haben müssen! Es ist grauenhaft. Man wagt kaum, daran zu denken.“
Pascal und Rebekka blickten einander in die Augen. Sie wussten es besser. Die Mädchen waren nicht kurz nach ihrer Einmauerung gestorben. Ihr Schicksal war noch viel furchtbarer gewesen. Sie waren quasi jahrhundertelang gestorben – eine nie endende Qual.
Sie machten einander Zeichen mit den Augen: Nicht darüber sprechen! Die halten uns sonst für verrückt. Sollen sie glauben, die armen Opferkinder seien in ihren finsteren Verliesen innerhalb weniger Tage elend verschmachtet. In Wirklichkeit sind sie erst in der Nacht der Brände erlöst worden. Sie starben eine halbe Ewigkeit lang und genauso lange litten sie unvorstellbare Qualen.
Die Polizeibeamten befragten Pascal und Rebekka. Sie gaben zu Protokoll, dass sie in der Nacht, in der der wütende Mob ihr Haus anzündete, mit knapper Not durch einen unterirdischen Gang entkommen waren, der vom Herrenhaus zum Hof von Alba führte. Sie waren in den Wald geflohen und nach England gegangen, um sich erst einmal in Sicherheit zu bringen. Nachdem sie von den Vorkommnissen in Silberberg erfahren hatten, waren sie nach Deutschland zurückgekehrt.
Das stimmte zwar nicht exakt, aber sie wollten den Polizisten nichts davon sagen, dass sie gekommen waren, um das verfluchte Teufelsbuch an sich zu bringen und es zu vernichten.
„Das ehemalige Haus meiner Urgroßmutter wird bald fertig zum Einziehen sein“, sagte Rebekka. „Wir sehen nach dem Rechten und dann gehen wir wahrscheinlich wieder nach England auf unser Hausboot, bis das Haus soweit ist. Ein paar Tage bleiben wir noch hier, um alles zu regeln.“
„Bitte kommen Sie in den nächsten Tagen aufs Revier, um ihre Aussage zu machen“, bat einer der beiden Polizisten. „Wir geben die Information, dass sie noch am Leben sind, schon mal weiter. Es ist wichtig, dass sie bezeugen, dass man einen Mordanschlag auf sie verübte.“
Pascal und Rebekka gingen zu Albas Hof. Pascal sperrte die Haustür auf. Sie liefen schnurstracks in den Keller und in den unterirdischen Stollen hinein.
„Oh nein!“ Rebecca stand vor dem Alkoven. „Alles weg! Jemand hat den losen Ziegel herausgezogen und das Buch und Uromas Vermächtnis gestohlen.“
„Wer könnte das gewesen sein?“, fragte Pascal.
„Wer wohl?“, rief Rebekka. „Die von den fünf Familien! Die müssen in Albas Haus eingedrungen sein, um zu schnüffeln. Die wussten, dass es den Gang gibt und dass Magdalena aus dem Alkoven befreit worden ist. Bei der Untersuchung des aufgebrochenen Alkovens wurden sie auf den losen Ziegel aufmerksam und haben sich das Buch gekrallt.“
„Damit sie ihre Teufelsanbetungen wieder aufnehmen konnten“, sagte Pascal. „Fünf Mädchen zu Vollmond opfern, dreimal hintereinander. Aber es ist ihnen was dazwischen gekommen.“
Rebekka grinste unfroh: „Urgroßmutter Albas Spruch: Kräht der Rote Hahn auf des Fürsten Haus in einer einzigen Nacht, so bricht die Macht des Dunklen auf immer und die kalte Flamme wird erlöschen und nicht wiederkehren. Die Häuser, Pascal! Die Häuser der fünf Familien waren SEIN Haus! Dort wohnte der dunkle Fürst, so wie Jesus in den Herzen gläubiger Christen wohnt. Der Rote Hahn hat auf SEINEM Haus gekräht.“
Pascal schaute in die leere Öffnung in der Wand: „Wer hat den Roten Hahn herbeigerufen? Von selbst ist das Feuer nicht nach Silberberg gekommen. Jemand muss es beschworen haben.“
„Wer weiß, vielleicht waren es die Familienältesten selber“, sagte Rebecca. „Vielleicht haben sie in ihrer Gier irgendeinen falschen Spruch aufgesagt und statt den Fürsten der Dunkelheit zu beschwören, riefen sie den Roten Hahn und damit ihr Verderben nach Silberberg. Die Familien selbst haben das Feuer gerufen.“
„Nein“, sagte eine leise Stimme hinter ihnen. „Ich war es. Ich habe den Roten Hahn angerufen.“
Sie fuhren herum. Im Gang stand ein Kind.
„Magdalena!“, rief Rebekka. „Du lebst!“
„Ihr auch“, sagte Magdalena. Sie warf sich in Pascals Arme. Sie krallte sich weinend an ihm fest. „I-Ich dachte, du bist tot“, schluchzte sie. „Ich dachte, ihr beide seid im Herrenhaus verbrannt. Ich konnte euch nicht mehr spüren.“
Pascal hielt das Mädchen fest umarmt. „Wir sind über die Grenze gegangen. Deshalb konntest du uns nicht mehr wahrnehmen. Wir sind nach England gegangen, um uns in Sicherheit zu bringen.“
Magdalena weinte lange in Pascals Armen. Sie beruhigte sich nur langsam. Schließlich war sie fähig, Fragen zu beantworten.
„Wieso bist du nicht tot?“, wollte Pascal wissen. „All die anderen Mädchen, die in den unterirdischen Verliesen eingemauert waren, sind tot.“
„Sie starben in dem Moment, als die kalte Flamme auf immer erlosch“, sagte Magdalena. „Vorher steckten sie untot in ihren kalten Kerkern fest, dazu verurteilt, auf immer zu leiden und zu verschmachten. Als die Macht des Fürsten der Dunkelheit brach, waren sie frei und ihre Seelen gingen in die Unendlichkeit ein.“ Sie schmiegte sich fest an Pascal: „Ich war auch dort … fast. Als die kalte Flamme erlosch, war ich … ich ging … irgendwie … fort … aber ich konnte nicht gehen. Etwas hielt mich fest. Da wo die böse kalte Flamme in meinem Herzen gebrannt hatte, glomm eine warme Flamme auf. Sie flammte hell auf und erfüllte mich mit Wärme und Liebe. Deshalb konnte ich den anderen Mädchen nicht folgen. Die warme Flamme hielt mich auf der Welt fest, auf der ganzen Welt.“
Rebekka nickte Pascal zu: „Sie ist keine Untote mehr. Als der Fluch von ihr wich, wurde sie lebendig.“ Sie fasste Magdalena am Arm: „Du bist keine Gefangene mehr, nicht wahr? Dir steht die ganze Welt offen. Es war die kalte Flamme, die dich in Silberberg gefangen hielt.“
„Ich bin frei“, sagte Magdalena. „Ich kann gehen, wohin ich will. Aber ich will nicht.“ Sie kuschelte sich noch fester an Pascal. „Ihr habt mir mit eurer Liebe das Leben zurückgegeben. Ich will bei euch bleiben. Für immer.“
„Das wirst du“, versprach Pascal. „Du gehörst zu uns. Du bist unsere Tochter.“
Da drückte sich Magdalena noch fester an ihn. Dann ließ sie ihn los und trat einen Schritt zurück. Mit großen Augen schaute sie zu ihm auf. „Ich habe Hunger“, sagte sie leise. „Ich habe ganz furchtbaren Hunger.“
Erst jetzt sahen sie, dass das Mädchen einen Schatten hatte.
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