Wenn der Rote Hahn kräht(11) |
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„Nein!“, wisperte er. „Oh nein! Bitte nicht! Oh bitte nicht!“ Sein Herz schlug schneller. Er verspürte einen bitteren Geschmack im Mund. „Um Gottes willen! Bitte nicht!“
Hinter der Öffnung gab es keinen weiteren Geheimgang. Dort befand sich ein kleiner Raum, ein sehr kleiner Raum. Es war nur ein Alkoven. Der Raum war nicht leer.
Drunten am Boden hockte eine menschliche Gestalt.
„Oh Gott!“, flüsterte Pascal. Er schluckte. „Um Gottes willen!“ Er fühlte Übelkeit aufsteigen. „Das gibt es doch nicht! Das kann nicht sein! Um Himmels willen!“
Die Geschichten fielen ihm ein. Kinder in unterirdischen Verliesen eingekerkert, eingesperrt. „Oh Gott!“
In dem kleinen Raum hockte ein Kind. Es war ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. Es war tot, aber der kleine Leichnam war bemerkenswert gut erhalten. Wahrscheinlich hatte das trocken-kalte Klima in den unterirdischen Gängen die Leiche mumifiziert. Das Kind sah aus, als schliefe es friedlich.
„Oh mein Gott! Oh! Mein! Gott!“ Seine Stimme war nichts als ein abgehacktes Keuchen, untermalt von einem fast stimmlosen Wimmern. „Das kann nicht wahr sein! Das darf nicht …!“
Ein schluchzender Laut brach aus seiner Kehle hervor. „Um Gottes willen! Wer tut so etwas?“
Er trat näher und betrachtete den kleinen, zusammengesunkenen Leichnam. Es war ein Mädchen von zehn Jahren mit dunkelblondem Haar. Nicht nur der Körper sah erstaunlich guterhalten aus, auch die Kleider aus grobem Webstoff waren in geradezu perfektem Zustand.
Der Kopf des Mädchens war zur Seite gesunken und lehnte an der Wand der kleinen Nische, in der der Leichnam kauerte. Als Pascal sich bückte, sah er, dass die Hände des Mädchens hinter seinem Rücken mit einem groben Strick zusammengebunden waren. Auch die Füße des Mädchens waren gefesselt.
„Ich glaube das einfach nicht!“, wisperte er. Ihm war klar, was er vor sich hatte. Man hatte dieses Kind an Händen und Füßen gefesselt in die Nische gezwungen und es eingemauert.
„Lebendig!“, flüsterte Pascal. „Sie muss gelebt haben, als sie eingemauert wurde!“ Ihm wurde speiübel. Es war klar, dass mehr als nur ein Körnchen Wahrheit in den alten Geschichten steckte, die man sich im Dorf erzählte.
„Die Sekte!“ Er musste hart schlucken. „Opfer! Kinderopfer! Man hat ein Kind geopfert! Es lebendig eingemauert! Oh Gott!"
Die Stimme seines Großvaters tönte laut durch seinen Verstand: „Silberberg ist kein guter Ort. Es gibt dort nichts Gutes!“ Sein Vater hatte sich ähnlich ausgedrückt.
„Ob sie etwas wussten?“, fragte er sich. „Oder waren sie nur von ihren Vorfahren gewarnt worden?“ Hatten diejenigen, die damals aus Silberberg weggingen, ihre Nachkommen vor dem Ort gewarnt?
Pascal fasste nach vorne und strich mit den Fingerkuppen unendlich zart über das Haar des toten Mädchens: „Du Armes! Was hat man dir angetan!? Wer hat das getan? Wer ist zu so etwas fähig?“
Wer war so grausam, ein Kind lebendig einzumauern? Und warum?
Die Sekte, überlegte Pascal. Die fünf Familien gehören einer geheimen Sekte an. Astrid Kluding hat es gesagt.
Sanft streichelte er die zusammengesunkene kleine Gestalt. Tiefes Mitgefühl erfüllte ihn. „Du Armes!“, sagte er erneut. Das Mädchen tat ihm unendlich leid. Welch eine Angst musste dieses Kind gehabt haben, als man es einmauerte. Es musste vor Entsetzen außer sich gewesen sein. Hatte dieses arme Kind gewusst, dass man es in diesen kalten dunklen Erdstall führen und lebendig einmauern würde? Dass man es opfern würde? Hatte man es ihm gesagt?
Er hörte die Stimme von Agnes Friedmanns Tochter Johanna in seinem Kopf: „Sie sieht traurig aus. Als ob sie sich vor etwas fürchtet, das auf sie zukommt.“
„Magdalena?“ Pascal beugte sich weiter in die Nische hinein, um das Gesicht des toten Mädchens genauer in Augenschein zu nehmen. „Mein Gott, du bist es!“ Das Mädchen in der Nische war Magdalena Hennes, das Mädchen auf dem Bild droben im Wohnzimmer.
Pascal war wie erschlagen. Sein Verstand weigerte sich, zu glauben, was seine Augen wahrnahmen. Immer wieder schüttelte er den Kopf.
„Um Gottes willen!“, hauchte er „Um Gottes willen!“
Wieder strich er dem toten Kind durch das dunkelblonde Haar. Seine Gedanken rasten. Er war absolut sicher, dass es sich bei dem toten Mädchen um Magdalena Hennes handelte, um das Mädchen, das er auf dem Bild aus dem Jahr 1631 gesehen hatte. Ihm war übel. Ihm war klar, was er vor sich hatte. Er hatte darüber gelesen.
Ein Kinderopfer! In dem Artikel im Internet stand, dass man früher manchmal Kinderschuhe unter dem Hauseingang eingemauert hatte. Es war ein symbolisches Kinderopfer. Weiter stand in dem Artikel, dass man bei großen Bauwerken auch wirklich Kinder geopfert hatte. Es gab mehrere bestätigte Fälle, bei denen man Jahrhunderte später beim Abriss solcher Großbauten die Skelette von Kindern entdeckt hatte.
Pascal hatte auch eine Doku im TV gesehen, in der gezeigt wurde, wie im Mittelalter eine Mutter ihr zehnjähriges Kind verkaufte und in einer Spielszene sah man, wie der kleine Junge lebendig im Fundament einer Burg eingemauert wurde. Pascal hatten sich die Haare gesträubt, als er zusah, wie die Maurer Stein über Stein setzten. Der kleine Junge hatte ihm unendlich leidgetan. Gleichzeitig war er empört gewesen. Wie konnten Menschen eine solch ungeheuerliche Tat begehen?
Er betrachtete das Gesicht des toten Kindes. „Mit dir hat man das gleiche gemacht“, sprach er voller Mitgefühl. „Wie konnten sie nur!?“
Das Kind gab keine Antwort. Es kauerte still und reglos in der kleinen Nische. Aber es sah nicht wirklich wie tot aus. Die Haut war nicht schrumpelig und die Augen hinter den geschlossenen Lidern waren nicht eingefallen. Das Mädchen sah aus, als schliefe es friedlich.
Wieder streichelte Pascal das tote Kind. „Arme Magdalena“, sagte er. „Armes Kind. Warum nur? Warum hat man dir das angetan? Wieso bist du hier?“
1632! Der Gedanke kam einfach so angeflogen. Im Jahr 1632 hatten die fünf Familien Silber entdeckt und sie waren damit reich geworden. War die kleine Magdalena das Opfer für irgendeine Naturgottheit gewesen? Hatten die Dorfbewohner im Mittelalter ein Kind geopfert, um durch Silber reich zu werden? Oder war Magdalena ein Dankesopfer, dargebracht, um sich für die Entdeckung der Silbermine erkenntlich zu zeigen?
Pascal stand auf. Er stand neben der Nische mit dem grauenvollen Inhalt im engen Gang und betrachtete den zusammengesunkenen, kleinen Leichnam mit einer Mischung aus Abscheu, Grauen und unendlichem Mitleid.
„Das fange ich mit dir an?“, fragte er. „Ich kann dich ja nicht hier liegen lassen.“ Die Vorstellung, jedes Mal, wenn er den unterirdischen Gang benutzte, an der kleinen Mumie vorbei gehen zu müssen, erfüllte ihn mit kaltem Entsetzen. „Nein! Hierbleiben kannst du nicht, Mädchen. Was du brauchst, ist ein anständiges Begräbnis. Aber wie soll das gehen?“
Er dachte an das, was Astrid Kluding ihm in der Bäckerei erzählt hatte. Die fünf Familien. Dass die Erzählungen über die Familien Dahl, Hennes, Stolz, Köhler und Theiß keine Hirngespinste waren, mit dem man kleinen Kindern Angst einjagte, das bewies das tote Kind in der Nische.
„Die dürfen das auf keinen Fall erfahren!“, sprach Pascal laut vor sich hin. Er sprach laut, weil er den Klang seiner Stimme hören wollte, um das Entsetzen zu lindern, das ihn gepackt hatte.
„Die fünf Familien haben ihren eigenen Glauben“, hatte Astrid Kluding gesagt. „Wir Weltlichen gehören nicht zu ihnen.“
Ein eigener Glaube. Eine Sekte. Geheime Rituale. Was noch? Schwarze Messen? Teufelsanbetung? Kinderopfer? Anbetung eine Naturgottheit?
„Ich kann das einfach nicht glauben!“, sagte Pascal zum wiederholten Male.
Er musste an die Worte seines Vaters denken: „Du gehst da nicht hin, Pascal! Es ist ein schlechter Ort! Wir gehen dort nie wieder hin!“
Und sein Großvater: „Silberberg ist kein guter Ort. Es gibt dort nichts Gutes. Pascal, komm niemals auf die Idee, dorthin zu gehen. Es hat einen Grund, warum Roland und Irene damals mit ihren Kindern von Silberberg weggingen. Es war kein guter Ort und ist es bis heute keiner. Gehe nie dorthin!“
„Kinder“, murmelte Pascal. „Roland und Irene hatten Kinder. Ihre Tochter hieß Gertrud.“
Er betrachtete die kleine Mumie im Alkoven. „Gertrud war so alt wie Magdalena Hennes. Mein Gott!“
Pascal hielt die Luft an. Kinderopfer! Gab es denn nur dieses eine Opfer? Oder gab es mehr als nur Magdalena?
Wie hatte die Tochter von Agnes Friedmann noch gesagt: „Da sperren die Hennesleute Kinder ein.“
Ihre Mutter: „In Silberberg sind in der Vergangenheit Kinder verschwunden.“
Und die Worte von Astrid Kluding in der Bäckerei: „Herr Hennes, ihre Leute sind damals geflohen!“
Geflohen vor was?
„Sie gehörten zu den fünf Familien“, sagte Pascal zu sich selbst. Die fünf Familien hatten einen eigenen Glauben. Einen Glauben an was? Kinderopfer? Nur eines, oder gab es mehr? War Magdalena Hennes vor vielen hundert Jahren die Erste gewesen? Waren weitere Kinder geopfert worden? Wie viele? Alle fünfzig Jahre eins? Alle hundert Jahre eins? Oder häufiger?
Waren Roland und Irene aus Silberberg geflohen, um ihre kleine Tochter vor einem entsetzlichen Schicksal zu bewahren?
Pascal fühlte, wie sich sein ganzer Körper mit einer Gänsehaut überzog. Hatten sein Vater und sein Großvater ihn davor warnen wollen? Weil die Gefahr bestand, dass er vielleicht eines Tages eine kleine Tochter von etwa zehn Jahren haben würde und sie dann als Opfer auserkoren würde?
Und Julius Theiß und Adam Stolz? Die hatten so geschraubt dahergeredet, ob er sich vorstellen könnte, ein Kind zu adoptieren. Als er von den Leihmüttern in der Ukraine gesprochen hatte, hatte das die beiden Männer sichtlich gefreut.
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