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Stefan Steinmetz
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Wenn der Rote Hahn kräht(18) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Pascal und Rebecca waren in der Bootswerkstatt von Aintree Boats zu Besuch. Der Manager führte sie überall herum und zeigte ihnen mehrere Narrowboats in verschiedenen Baustadien. Er hörte sich ihre Wünsche aufmerksam an und gab ihnen Tipps, was alles machbar war. Der Mann war freundlich und kompetent. Als Pascal sagte, sie wollten ein Schmalboot im gebräuchlichen Format, einen sogenannten 57-Footer, wartete der Mann mit einer Überraschung auf. Es gab ein Boot, das bereits fertig gebaut war und nur noch auf seine Innenausstattung wartete. Der Kunde, der das Boot bestellt hatte, war unerwartet verstorben und seine hinterbliebene Ehefrau wollte das Boot nicht mehr haben und bot es zum Verkauf an.
„Es ist natürlich traurig, dass der Kunde verstorben ist“, meinte der Manager, „aber wenn sie den Rohbau übernehmen, würden sie der Witwe einen großen Gefallen tun. Sie will das Boot auf keinen Fall. Es würde sie zu sehr an ihren Mann erinnern. Sie möchte es gerne loswerden. Sie bekommen das Fahrzeug zu einem herabgesetzten Preis. Wenn sie zusagen, machen wir uns umgehend an die Innenausstattung. Das Boot wird noch im Sommer fertig.“
Pascal überlegte nicht lange. So ein Schnäppchen ließ er sich nicht entgehen. Er schlug ein und der Manager lud sie in sein Büro ein, wo er ihnen bei einer Tasse Kaffee am Computerbildschirm die unterschiedlichen Inneneinrichtungen zeigen wollte. Pascal und Rebecca folgten dem Mann. Sie waren guter Dinge. Noch diesen Sommer! Besser konnte es gar nicht sein.
*
Nach zwei Tagen begleitete Johanna wieder ihre Mutter zum Herrenhaus. Kaum war die Haustür offen, sauste sie voraus, direkt in das Zimmer mit den Gemälden. Sie stürzte zum Tisch mit dem Damenbrett. Ein weißer Spielstein war bewegt worden! Johanna starrte den Spielstein an, als wäre er eine giftige Vogelspinne, die sie jeden Moment anspringen konnte.
„Das gibt‘s doch nicht!“, flüsterte sie. Der Stein war bewegt worden. Diesmal konnte ihre Mutter es nicht gewesen sein.
„Wer dann?“, fragte sie halblaut in den Raum hinein. „Geistert hier im Haus wirklich ein Gespenst herum?“ Nun … jedenfalls schien es ein freundliches Gespenst zu sein. Es hatte keinen Becher mit einem vergifteten Getränk für Johanna auf den Tisch gestellt und auch keine Falle vorbereitet, etwa einen Eimer voll Wasser oben auf der Tür, der Johanna auf den Kopf fallen würde, wenn sie den Raum betrat. Nein, wenn es im Haus einen Geist gab, hatte er sich lediglich auf eine Partie Dame mit Johanna eingelassen.
„Ich gehe überall rund und kontrolliere sämtliche Fenster und Türen“, verkündete Johanna. Sie lief los. Sie betrat jedes Zimmer im Haus, erst unten, dann oben im ersten Stock. Aufmerksam sah sie sich alles an. Es schien, als ob hier und da etwas verändert worden war, aber sicher war sie nicht. Da war ein Sessel, der ein Stück zur Seite geschoben war, aber das konnte auch vorher passiert sein. Johanna biss sich auf die Unterlippe. Sie lief die Treppe hinauf.
Der Damestein war bewegt worden, dass war eine Tatsache und ihre Mutter konnte es nicht gewesen sein, außer …
„Ach nee!“, brummte Johanna. Ihre Mutter hatte einen Schlüssel fürs Herrenhaus. Sie konnte das Haus jederzeit betreten und sich am Damespiel zu schaffen machen. War es das?
Johanna betrat das Zimmer, das direkt beim Treppenaufgang lag. Sie fühlte leise Enttäuschung. Irgendwie hatte der Gedanke, es könnte einen echten Geist im alten Herrenhaus geben, angefangen ihr zu gefallen. Dass ihre Mutter hinter den Vorkommnissen steckte, fand sie blöd. Sie zuckte die Achseln.
„Schade“, murmelte sie und betrat das Zimmer. Nahe beim Fenster stand ein Pult, an dem man schreiben oder malen konnte. Es gab verschiedene Stifte: Bleistifte, Buntstifte und einen teuer aussehenden Tintenfüller. Hier hatte Ellen Hennes wohl ihre Briefe verfasst. Ein Stuhl stand vor dem Pult. Er stand falsch. Er stand rechts von der Pultfläche vor einer Reihe von drei Schubladen unter der Tischplatte. So konnte man sich nicht auf diesen Stuhl setzen. Statt die Beine unter die Tischplatte zu kriegen, würde man sich die Knie an den Schubladen stoßen.
Johanna schaute den Stuhl an. Der Stuhl stand falsch. Er berührte fast die Wand rechts von dem Schreibpult. Dort gab es mehrere Regale mit Büchern. Er sah beinahe so aus, als hätte jemand den Stuhl nach rechts gerückt, um sich darauf zu stellen, um eins der Bücher im obersten Regal an der Wand herauszuholen, jemand der zu klein war, bis ans oberste Regal zu reichen.
„Ein Kind“, sagte Johanna leise. „Ein Kind würde so etwas tun.“ Sie schaute das oberste Regal genau an. Dort gab es eine Lücke zwischen all den Büchern. Als hätte jemand ein Buch herausgeholt. Kurzentschlossen rückte Johanna den Stuhl an seinen Platz direkt vor der Schreibfläche des Pultes. Dann machte sie sich daran, alle anderen Zimmer zu kontrollieren.
Ganz am Ende des Flurs hing ein Vorhang an der Wand. Johanna schaute dahinter. Da war nichts, nur die nackte Wand. Johanna fand das komisch. Man sollte erwarten, dass sich hinter einem solchen Vorhang eine Tür befand, aber da war nichts. Achselzuckend machte sie kehrt und lief die Treppe hinunter, um ihrer Mutter beim Gießen der Pflanzen zu helfen.
„Oben ist alles in Ordnung“, meldete sie. „Kein Einbrecher war am Werk.“
„Wer sollte auch in einen solchen Kasten einbrechen?“, fragte ihre Mutter. „Hier gibt es nichts außer alte Möbel. Die sind bloß alt. Antiquitäten sind das nicht. Hier gibt es für einen Dieb nichts zu holen.
*
Pascal und Rebekka hatten am Kanalufer festgemacht. Sie hatten in einer nahen Ortschaft Lebensmittel besorgt und kochten Spaghetti mit Bologneser Sauce. Sie waren das einzige Boot an der Anlegestelle. Das war nicht immer so. Manchmal legten sie für die Nacht an einer Stelle an, an der es mehrere sogenannte Moorings, also Anlegestellen, gab. Die anderen Bootsfahrer waren durchweg freundlich, wie Pascal es von seinen früheren Kanaltouren kannte. Wenn man wollte, konnte man schnell freundschaftlichen Kontakt aufbauen, aber man konnte auch für sich bleiben, wenn einem das lieber war. Wenn jemand seine Ruhe haben wollte, ließ man sie ihm.
Sie fanden es schön. Man konnte den Abend mit netten Nachbarn verbringen oder allein zu zweit glücklich sein. Rebekka gefiel es sehr. Sie freute sich schon auf die Zeit, wenn sie ihr eigenes Boot haben würden.
„Wir könnten den ganzen Sommer auf den englischen Kanälen verbringen“, sagte sie nach dem Essen. „Es ist herrlich. Man ist mitten in der Natur und doch nahe bei der Zivilisation. Es ist ein einfaches Leben. Man kann loslassen und muss sich nicht mit zu vielen Dingen belasten. Die Menschen sind durchgehend freundlich. Ja, es wäre toll, einen Großteil des Jahres afloat zu verbringen. Wir bräuchten bloß alle paar Wochen mal eben schnell in die Heimat zu fliegen, um in unseren Häusern nach dem Rechten zu sehen. Unsere Arbeit nehmen wir mit aufs Boot. Wir arbeiten beide am Computer und haben in England mobilen Internetanschluss.“
„Ich werde bei einer Londoner Bank ein Konto eröffnen“, versprach Pascal. „Darauf transferiere ich einen schönen Batzen Geld. Dann können wir alles in England direkt bezahlen: Versicherung, Bootslizenz, Internetgebühren und Einkäufe mit Geldkarte. Wir können in unserer Heimat-Marina sogar eine Postanschrift bekommen.“
Rebekka machte ein skeptisches Gesicht: „Den Familien wird das wahrscheinlich nicht gefallen. Die wollen, dass du in Silberberg lebst.“
„Was die wollen, geht mich nichts an“, sagte Pascal. „Ich habe meinen Hauptwohnsitz in Silberberg angemeldet, wie es im Testament verlangt wurde. Ob ich jedes Jahr einige Zeit auf den englischen Kanälen verbringe, kann denen egal sein. Als ich Dr. Bendler fragte, ob ich mir eine Segelyacht in einem Mittelmeerland zulegen darf und jedes Jahr ein paar Monate auf Kreuzfahrt gehen könnte, sagte er, dass sei in Ordnung, solange ich in Silberberg meinen Hauptwohnsitz habe.“
Da will ich eh nicht weg, dachte er. Nicht, nachdem Magdalena zu mir gekommen ist. Er überlegte noch immer, wie er es Rebekka erzählen sollte. Er fühlte sich merkwürdig verunsichert, wenn er nur daran dachte. Wie würde sie reagieren? Er wusste es nicht, aber ihm war klar, dass er es nicht mehr lange aufschieben durfte. Eines Tages musste er Rebekka über Magdalena aufklären. Die Frage lautete: Wie erklärt man jemandem, dass ein Geist im Haus lebt?
*
Johanna stand im Zimmer mit den Bildern. Auf dem Damebrett hatte jemand mit einem weißen Stein einen Zug gemacht.
„Es ist wieder passiert!“, flüsterte sie. Dann sagte sie laut: „Ich gehe nach oben, die Fenster kontrollieren.“ Sie stieg die Treppe hinauf und marschierte schnurstracks in das Zimmer mit dem Schreibpult. Der Stuhl stand nicht mehr direkt vorm Pult. Er war wieder ganz nach rechts gerückt. Johanna schaute ins oberste Regal. Diesmal fehlte ein Buch ganz links. Jemand war auf den Stuhl gestiegen und hatte dort ein Buch herausgenommen. Sollte ihre Mutter das wirklich getan haben? Dass sie die Spielsteine auf dem Damebrett bewegte, ging ja noch an, aber ihre Mutter würde sich gewiss nicht die Mühe machen, hier oben das Spielchen mit dem Stuhl abzuziehen. Das konnte sich Johanna wirklich nicht vorstellen.
Blieb als Lösung des Rätsels nur, dass ein Kind im alten Herrenhaus herumgeisterte.
Sie stellte den Stuhl wieder direkt vor das Schreibpult. Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu, dachte sie. Niemand ist ins Haus eingebrochen und doch werden Sachen bewegt. Sie dachte an Lukas Ziegler, der nicht weit entfernt mit seinen Eltern wohnte. Hatte Lukas sich vielleicht heimlich einen Nachschlüssel zum Herrenhaus besorgt? Aber wie sollte das gehen? Armin und Ellen Hennes hätten niemals zugelassen, dass ein Weltlicher einen Schlüssel zu ihrem Haus in die Finger bekam und warum hätte Lukas so etwas tun sollen?
Vielleicht hat er so kleine Werkzeuge, mit denen man Schlösser öffnen kann, überlegte sie. Sie hatte im Internet eine Doku gesehen. Leute vom Schlüsseldienst konnten die meisten Schlösser öffnen, wenn es sein musste. Wenn zum Beispiel jemand vergessen hatte den Haustürschlüssel mitzunehmen und nun vor verschlossener Tür stand. Man musste mit ganz kleinen und dünnen Werkzeugen im Schloss herumfummeln und wenn man geschickt genug war, bekam man das Schloss auf.
Die Frage war: Warum sollte Lukas so etwas tun? Genau wie fast alle weltlichen Kinder Silberbergs mochte er das alte Herrenhaus nicht. Man erzählte sich zu viele gruselige Geschichten über den alten Kasten. Warum sollte ausgerechnet Lukas mutterseelenalleine ins Herrenhaus eindringen, noch dazu, wenn jeder sehen konnte, dass er sich an der Haustür zu schaffen machte?
„Durch die Hintertür kann er nicht rein“, sagte Johanna halblaut, während sie alle Zimmer im ersten Stock kontrollierte. „Die ist von innen mit einem Riegel verschlossen. Es gibt kein Schloss.“ Sie wurde nicht schlau aus der Sache. Also beschloss sie, weiterhin die Augen aufzuhalten. Mehr konnte sie nicht tun.

18.10.2024 05:30 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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