Mittags wartete Polly vorm Haus auf Chayenne. Der Leutnant leistete ihr Gesellschaft, da er die Männer nicht mehr beim Eisenbahnbau beaufsichtigen musste. Chayenne hatte telefonisch angekündigt, dass sie kommen würde. Ihre Mutter hatte die Pyjamaparty erlaubt.
Es dauerte nicht lange, da ging der Leutnant in Habachtstellung und machte Meldung: „Waff! Baff!“
Polly schaute die Straße entlang: „Kommen zwei?“
„Waff! Baff!“ wiederholte der Leutnant.
Tatsächlich kamen aus Richtung Runsach zwei Gestalten auf sie zu.
Polly kraulte den Großspitz: „Brav gemeldet, Herr Leutnant. Nehme er Platz.“ Sie schaute den Hund an: „Ich dachte immer, Hunde haben keine besonders gute Augen. Riechen konntest du auf diese Entfernung wohl nicht, dass zwei kommen, oder?“
Der Spitz lächelte sie mit seinem allerbesten Hundelachen an und schmiegte sich schwanzwedelnd an sie.
Polly lachte: „Du bist mir einer!“
Die zwei Gestalten waren heran. Es war Chayenne Kowak. Ihr Cousin Jerome Joel begleitete sie. Er schleppte einen kleinen Rucksack.
Polly nahm sich zusammen, um nicht die Augen zu verdrehen. Schrööm Schööl! Was wollte der denn hier?
Dann standen die beiden vor ihr.
„Hallo Polly“, sagte Chayenne. Sie klang richtig fröhlich. „Mama hat es erlaubt. Ich darf bei dir übernachten.“ Sie zeigte auf Schrööm Schööl: „Mein Cousin ist mitgekommen, um aufzupassen, dass mich keiner anfällt unterwegs.“
„Lüge“, dröhnte Schrööm Schööl. „Mit dem Rad konnte sie nicht fahren, weil ihr ja morgen früh zur Schule gebracht werdet. Da hat Tantchen mich zum Schleppesel gemacht, weil die Heuschrecke hier zu dürre Beine hat, um ihren Rucksack selber zu schleppen.“ Er zwickte Chayenne in den Oberarm, wofür die sich mit einer hurtigen Drehung mit anschließendem Schienbeintritt bedankte: „Flosse weg, du Harzbacke! Gib mir meinen Rucksack.“
„Da hast du´s!“ sprach Schrööm Schööl mit Grabesstimme. „Man tut seiner heißgeliebten Cousine einen Gefallen und wird dafür aufs Schändlichste misshandelt. Mit armen Eseln kann man´s ja machen.“ Er hielt den Rucksack hoch: „Sag Bitte-Bitte, lieber Cousin!“
„Den Rucksack her, du Hammel!“ sagte Chayenne und hopste an Schrööm Schööl hoch. Sie bekam den Sack zu fassen und riss ihn ihrem Cousin aus den Händen. „Dödel!“ Sie wurde rot.
„Der ist immer so“, sagte sie zu Polly. Offensichtlich schämte sie sich, weil ihr Cousin sie so kindisch behandelte.
„Solange er nicht beißt, geht’s ja“, sagte Polly schlagfertig.
„Beißen? Ich?“ Schrööm Schööl tat entgeistert. Er zeigte auf Chayenne: „Die da ist bissig. Kaum sagste was, was ihr nicht passt, haste die an dir dranhängen wie ne zugeschnappte Bärenfalle.“ Er umarmte Chayenne, auch wenn die sich dagegen wehrte: „Ich kann ja nicht zulassen, dass meinem Cousinchen was passiert.“
Plötzlich wurde er ernst: „Die Alten wollen ihr nicht glauben. Blödmänner, depperte! Sagen, Chayenne hätte schlecht geträumt.“ Er trat vor Polly. Der Zwölfjährige sah auf einmal völlig verändert aus: „Danke, Appolonia, dass Chayenne bei dir schlafen darf. Sie hat furchtbare Angst, dass dieses irrsinnige Schratzl-Vieh heute Nacht wiederkommt. Die Bürgerwehr will zwar aufpassen, aber das wollten sie letzte Nacht ja auch und man sieht, was dabei rauskam.“
Er gab Polly die Hand. Sie war darauf nicht gefasst und starrte den Jungen aus großen Augen an. Sie kannte Schrööm Schööl nur als Stänker-Hannes und Schulhofschläger. Der Junge, der da vor ihr stand, schien ein völlig anderer zu sein.
Schnell fasste sie sich. „Kann ich dich mal was fragen?“
Schrööm Schööl lächelte breit: „Klar.“
„Wie wird dein Name ausgesprochen? Auf dem Schulhof hört man die unterschiedlichsten Aussprachen.“
Schrööm Schööl verdrehte die Augen: „Oh Gott! Mein wundervoller Vorname! Ja, es kursieren die härtesten Sprachstunts darüber.“ Er deutete eine Verbeugung an: „Gestatten: Jerome Joel Kowak. Ausgesprochen Scherohm Scho-Ell Ko-Wack. Das Sch am Anfang bitte stimmhaft wie in Jeep. Den dämlichen Schrööm Schööl habe ich meiner Oma zu verdanken. Ich hab sie ja echt total gern, aber dafür könnte ich ihr in den Hintern treten. Sie tut das aus reiner Sturheit. Sie mag keine ausländischen Ausdrücke, auch keine ausländisch klingenden Namen. Meinem Großcousin Yves ergeht es noch schlimmer. Den nennt sie Üffes.
Sie sagt auch Kween statt Kwien, wenn sie was über die Queen in der Zeitung liest und das nervigste ist Curry. Sie sagt Gohrie dazu. Wenn sie Kurrie sagen täte, statt Körry, könnte ich es ja noch verstehen.“ Er rollte die Augen: „Mann! Großeltern können echt kompliziert sein. Kann ich was für meinen Namen? Soll sie doch meine Eltern anmotzen. Meine Freunde nennen mich übrigens Jerry.“ Er sprach es wie Tschärrie aus. „Kannst du auch zu mir sagen. Alles besser als die Verballhornereien.“ Er klopfte Chayenne auf die Schultern: „Dann viel Spaß bei deiner Freundin. Ich zieh Leine. Servus miteinander.“ Damit drehte er sich um und ging.
„Tschüss Jerry“, rief Polly hinter ihm her. Sie lächelte Chayenne an: „Komm. Bringen wir dein Zeug rein. Lass uns schnell die Hausaufgaben machen, dann sind wir frei und können tun und lassen, was wir wollen.“
Nachdem sie ihre Schulaufgaben erledigt hatten, gingen die Mädchen nach draußen und besuchten Sir Henry in seiner Schweinerei.
Chayenne nahm den Meereber vorsichtig auf den Arm und streichelte ihn: „Der ist so goldig.“ Sie schaute Polly an: „Machst du echt Diät mit ihm? Mir kommt er nämlich noch ein bisschen dicker vor als beim letzten Mal.“
Polly blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht: „Allmählich mache ich mir Sorgen. Er hat hoffentlich kein Geschwür oder so was.“
Eine Weile spielten sie mit dem Meerschweinchen. Dann zogen sie quer über die Straße zu Stephan Harrer. Der Spitz folgte ihnen wie ein Schatten. Sie fanden Stephan bei allerbester Laune und nutzten das aus, um einige Runden auf seiner Feldbahn zu erbetteln.
„Wann kaufst du dir eine Diesellokomotive?“ fragte Polly, während sie von der summenden Akkulok über die Gleise gezogen wurden. Sie und Chayenne saßen in einem offenen Waggon mit Sitzbänken.
„Weiß nicht“, gab Stephan zurück. „Ich bin am hin und her überlegen. Einerseits hätte ich gerne eine richtig starke Lok. Eine mit zweihunderfünfzig PS. Aber hier auf dem kleinen Schienenkreis … Ich werde mich wohl mit einem kleinen Dingelchen mit fünfzig Pferdchen unter der Haube begnügen müssen. Ich hätte aber schon gerne eine richtig Große. Vielleicht schau ich in München mal bei dieser Firma nach, die Diesellok für Feld- und Schmalspurbahnen baut. Ich fahre demnächst zum Panzerknackertreffen. Da kommen aus ganz Deutschland Leute zusammen und knacken Schlösser. Der Schnellste gewinnt.“
Später saßen Polly und Chayenne in Pollys Zimmer und nähten abwechselnd an Pollys Nähmaschine. Chayenne war hin und weg von der Artex 4000. Sie hatte zugeschnittene Stoffstücke dabei und nähte sie zu einem Kinderkleidchen zusammen. Sie ließ die Nadel emsig über den Stoff sausen.
„Mensch, ist die schnell! Das geht viel besser als mit Omas uralter PFAFF. Außerdem muss ich nicht dauernd die Wippe treten.“ Sie nähte die letzte Naht und biss den Faden durch: „Fertig. Manno! Daheim hätte ich dreimal so lange gebraucht.“ Sie hielt Polly das Kleidchen hin: „Das kriegt meine kleine Schwester Finnja. Das Blau passt gut zu ihren blauen Augen.“
Polly schaute ihre Klassenkameradin an. Das war wirklich Chayenne Kowak? Das Biest? Die Stänker-Liese? Das Mädchen, dass sie aus strahlend blauen Augen anlächelte und ihr erzählte, dass sie ein Kleidchen für ihre kleine Schwester genäht hatte?
Es ist, wie Mama sagte, überlegte sie. Aus einer bösen, gemeinen Hülle ist ein liebes, nettes Mädchen geschlüpft.
Und Schrööm Schööl ist auch nicht so eklig, wie du immer dachtest, wisperte die kleine Stimme in ihrem Kopf.
Als Pollys Mutter anfing, fürs Abendessen zu decken, sauste Chayenne hinzu und half ihr.
„Danke, junges Fräulein“, sagte Sandra Kolbe. Sie schmunzelte.
„Gern geschehen“, antwortete Chayenne.
Später saßen sie und Polly in Pyjamas in Pollys Zimmer. Sie blätterten in Modezeitschriften und suchten sich die tollsten Klamotten aus. Die wollten sie bei Gelegenheit selber nachnähen.
Pollys Vater rief nach seiner Tochter: „Kommst du mal eben, Polly-Schatz?“
Die beiden Mädchen liefen zu Herrn Kolbe. Der saß vor seinem Computer.
„Dein Muckefuck-Buch“, sagte er und zeigte auf den Bildschirm. „Ich habe deine Schreibereien alle abgetippt und via Schreibprogramm in die richtige Form gebracht. Ist alles DIN A 5 Format. Dann habe ich die Fotos eingefügt. Guck mal. Das ist eine WYSIWYG-Bildanzeige. What You See Is What You Get. Das heißt: Was du siehst, ist was du kriegst. Genau so wie du es auf dem Bildschirm siehst, sieht es später im fertigen Buch aus. Schauen wir es uns mal von Anfang bis Ende durch, falls du was ändern möchtest an deinem Buch.“
Chayenne machte große Augen: „Dein Buch? Du hast ein Buch geschrieben? Ein richtiges Buch?“
„Nur so ein paar Rezepte“, sagte Polly leichthin. „Ich trinke gerne Muckefuck, also Ersatzkaffee. Kennst du vielleicht. Malzkaffee zum Beispiel.“
Chayenne nickte: „Den trinken wir Kinder daheim zum Frühstück. Darüber kann man ein Buch schreiben?“
„Es gibt unheimlich viele Pflanzen, aus denen man Ersatzkaffee machen kann“, sagte Polly. „Zum Beispiel aus Zichorienwurzeln und aus Löwenzahnwurzeln. Aus Lupiniensamen. Aus Bucheckern. Ich habe überall nach Rezepten gesucht. Der Bienerich hat mir geholfen.“
„Bienerich?“ Chayenne sah sie fragend an.
Polly lachte sie an: „Eugen Niedermeyer, der Mann der neben Stephan wohnt. Er züchtet Bienen. Drum nennen wir ihn so.“ Sie lehnte sich an ihren Vater: „Paps hat rausgefunden, dass es kein Muckefuck-Buch gibt und er hat gesagt, dann muss ich eins herausbringen. Im Internet-Versandhandel geht das. Da kann jeder ein Buch herausbringen. Papa sagt, es ist ganz einfach. Man muss alle Seiten am Computer vorbereiten und sie dann übers Internet verschicken. Die machen dann daraus ein Buch. Das Coole ist, es kostet nichts. Man muss kein Geld vorlegen, weil ein Buch erst dann gedruckt wird, wenn jemand eins bestellt.“
„Cool!“ fand Chayenne. Sie verfolgte interessiert, wie Polly und ihr Vater die Seiten durchsahen.
Abends gingen die Mädchen gemeinsam schlafen. Sie kuschelten zusammen in Pollys Bett. Die Nachttischlampe brannte und die Mädchen erzählten sich gegenseitig kleine Geschichten. Mitten in einer stockte Chayenne.
„Was hast du?“ wollte Polly wissen.
„Nichts.“ Chayenne schaute zur Decke. Ihre Unterlippe zitterte verräterisch.
Polly legte ihr eine Hand auf den Arm. „Du hast doch was?“ Sie dachte nach: „Heimweh vielleicht?“
Chayenne schüttelte stumm den Kopf.
„Was dann?“ bohrte Polly nach.
„Dein Papa“, fiepte Chayenne. „Das mit deinem Buch. Wie der sich gekümmert hat, damit du ein richtig tolles Buch kriegst.“ Chayennes Stimme wurde ganz leise: „Mein Papa macht so was nie mit mir. Nie.“
Sie räusperte sich: „Stattdessen verbietet er mir, im Elternschlafzimmer zu schlafen, obwohl er weiß, dass der Schratzl hinter mir her ist.“ Jetzt klang Chayenne verzweifelt: „Meine eigenen Eltern glauben mir nicht! Niemand glaubt mir. Sie sagen alle, ich hätte es mir eingebildet.“
Polly legte einen Arm um Chayenne: „Ich glaube dir.“
„Die Mandy“, sagte Chayenne mit dieser ganz leisen Stimme, einer Stimme die sich anhörte wie die Stimme eines sterbenden Vogeljunges, „die hat ein paarmal daheim gesagt, es spioniert ihr einer nach. Sie haben sie ausgelacht und gesagt, sie soll sich nicht so anstellen. Wer täte denn einem dünnen zehnjährigen Mädchen nachspionieren. Da müsse sie noch ein paar Jahre älter werden, bis die Jungen hinter ihr her wären. Sie wollten ihr nicht glauben, dass einer hinter ihr her war.“
Chayenne blickte Polly ernst an: „Sie hat Angst gehabt, die Mandy. Weil doch die Lenya und die Chantal bereits verschwunden waren und die Uroma Liesel gesagt hat, der Schratzl wars.“
Chayenne starrte an die Zimmerdecke: „Und dann war sie weg. Einfach verschwunden. Sie war bei ihrem Onkel und kam nicht daheim an. Das einzige was eine Woche später kam, war ihre abgesägte Hand.“
Polly drückte Chayenne: „Wenn du willst frag ich die Mama, ob du öfter bei mir übernachten darfst. Sie sagt bestimmt nicht Nein. Wirst sehen.“
Chayenne schaute sie aus großen Augen an. Polly sah Tränen darin schimmern: „Das würdest du tun?“
Polly nickte. Sie sah, wie Chayenne mit sich kämpfte, wie sie allen Mut zusammen nahm.
„Polly?“
„Ja, Chayenne?“
„Polly, es … es tut mir leid, dass ich immer so gemein war. Ich war wirklich böse. Aber ich versprech dir, ich tu es nie wieder. Ich werde nie wieder gemein zu anderen Kindern sein und ich werde mich nicht mehr prügeln. Ausnahme, wenn jemand mich angreift. Dann muss ich mich wehren. Aber ich geh auf niemanden mehr los. Ich tu nichts Böses mehr. Polly, ich versprechs dir.“
Chayenne blickte Polly so flehend an, wie jemand, der zu seiner Hinrichtung geführt wurde: „Polly? Sag … k-können wir Freundinnen sein?“ All ihr Herzblut lag in ihrem bittenden Blick.
Polly musste nicht lange überlegen. Chayenne hatte sich verändert, gewaltig verändert. Aus dem gemeinen Biest war ein liebes, nettes Mädchen geworden, das man wirklich gern haben konnte.
Außerdem, dachte Polly ganz pragmatisch, kann es nicht schaden ein Kowak-Mädchen zur Freundin zu haben.
Das würde einem beistehen, wenn andere Kowaks einen verdreschen wollten.
Aber das wichtigste war, dass sie Chayenne in letzter Zeit wirklich liebgewonnen hatte.
„Ja“, sagte sie deshalb. Sie lächelte Chayenne an: „Gerne.“
Chayenne gab einen leisen Piepston von sich: „Danke, Polly.“
Polly drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Backe. Wieder stieß Chayenne dieses leise Fiepen aus. Sie drückte sich ganz eng an Polly: „Ich habe noch nie eine richtige, beste Freundin gehabt.“
Polly drückte sie noch fester. Ganz fest hielt sie Chayenne in den Armen. Sie tat, als würde sie nicht merken, wie Chayenne weinte.
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