„Wie lief es ab?“ Thimas hockte ganz vorne am Gitter, Themas direkt vor ihm auf der anderen Seite. Frei anstatt eingesperrt und doch wieder nicht frei. Themas war ebenfalls ein Gefangener; ein Gefangener des Lehms. Sein Gefängnis war nur größer als das seines Zwillingsbruders.
„Es ging schnell“, sagte er. „Sie hielten einander bei den Händen, liefen los und nach wenigen Schritten hat der Boden sie verschluckt. Sie mussten nicht leiden.“
Mussten sie nicht?, fragte Themas sich in Gedanken. Wie sind sie gestorben? Hat das Lehm sie innerhalb eine halben Sekunde zu Tode gequetscht? Sie auf andere Art getötet? Oder zog es sie unter die Oberfläche und tat ihnen nichts an? Dann sind sie qualvoll erstickt, erfüllt von irrsinniger Todesangst.
Ihm wurde schlecht, wenn er daran dachte.
„Hatten sie Angst?“, wollte Thimas wissen.
Themas nickte: „Natürlich! Sie wussten, was ihnen bevorstand. Ihr Blick war ein einziges Flehen. Ich hasse das Lehm! Es schützt uns nicht! Es mordet!“
„Ja“, sagte sein Bruder leise. „Das tut es. Warum sind unsere Vorfahren nur in dieses Gebiet gezogen?“
„Sie wussten es nicht“, gab Themas zurück. „Mein Onkel sagte mir, sie seien arglos in eine riesige Falle getappt. Einmal drin gab es kein Entkommen.“
„Werden die Menschen für alle Zeit Gefangene des Lehms sein?“
„Ja, ich denke schon. Außer, sie fliehen. Aber das ist nicht einfach. Die meisten Flüchtlinge schaffen es nicht. Das Lehm erwischt sie und bringt sie um.“
„Bringst du mir weitere Buchstaben bei? Bald kann ich das ganze Alphabet.“
Themas fing mit dem Unterricht an. Er war voller Bitterkeit. Da brachte er seinem Zwillingsbruder das Lesen bei, nur damit der das neuerworbene Wissen mit in den sicheren Tod nahm. Es kotzte ihn an. Es machte ihn wütend und traurig zugleich.
Nach dem Unterricht erzählte er, wie das Lehm Grutie Umpfbeetl zur Räson gebracht hatte.
„Es ist Zeit, Themas. Du musst gleich gehen. Die Eltern kommen von der Versammlung zurück.“ Immer war es Thimas, der ihn zum Gehen aufforderte. Thimas hatte ein unglaubliches Zeitgefühl.
Themas stand auf. Er klopfte sich den Sand vom Hosenboden.
„Ich würde gerne hinaus gehen“, kam es von unten. Er sah die bleichen Finger seines Zwillingsbruders, die die Gitterstäbe umfasst hielten. „Ich möchte umherwandern und frei sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Wenn es mich zum Schluss erwischen würde, wäre ich eine Zeitlang frei gewesen.“
Themas spürte, wie eine Faust aus Eisen sein Herz zusammen quetschte. Er musste tief durchatmen, bevor er antworten konnte. „Es würde kein leichter Tod sein. Ich bin mir sicher, dass das Lehm in seiner Wut alles tun würde, um es so lange wie möglich hinauszuzögern.“ Er machte eine Pause und wartete auf Antwort. Es kam keine.
„Ich weiß nicht, wo der Schlüssel ist“, sagte er.
Schweigen.
Dann: „Wenn du ihn findest, lässt du mich heraus?“
Themas presste die Augen zu, wie um alles auszusperren. „Ja“, sagte er. Dann ging er.
*
Sie zogen ins Zentrum des Lehms. Alles war auf den Beinen. Es ging zum großen Sommerfest. Themas fühlte sich gut. Diesmal würde es keine Gabe ans Lehm geben. Es hatte keine „erbeten“.
Trischa Banbirk ging neben ihm. Er hätte gerne mit ihr über den Vorfall im Dorf gesprochen, als das Lehm die kleine Lehma gerüffelt hatte. Er wagte es nicht. Es waren zu viele Menschen um sie herum und es war unmöglich sich abzusetzen. Sie mussten alle beieinander bleiben.
Bei Südlehmingen stieß die Lehma mit einigen der Priester zu ihnen. Grutie Umpfbeetl setzte sich ungefragt an die Spitze des Zuges und spielte Anführerin. Sie trug die Nase längst wieder hoch. Themas fragte sich, ob das Lehm sie nur geschüttelt hatte oder ob es wirklich zu Grutie gesprochen hatte. Konnte das Mädchen Worte hören, wenn es mit dem Lehm in Verbindung stand? Oder wurden nur verschwommene Bilder übertragen? Noch nie hatte eine Lehma darüber gesprochen.
Weiter vorne sah Themas seinen Freund Mirkus laufen. Seine kleine Schwester Hurckie hing an seiner Hand, als suchte sie Schutz. Seit ihr Zweitling ins Lehm gegangen war, war Hurckie still und in sich gekehrt. Mirkus ebenfalls. Themas hatte ihn seit der Opferung nicht mehr lachen hören. Dabei hatte sein Freund einen ansteckenden Humor gehabt. Nun schritt er dahin wie eine Aufziehpuppe. Er wirkte leblos und bedrückt.
Wirklich seltsam war, dass Mirkus´ Eltern noch immer treue Gläubige waren. Sie glaubten ans Lehm und seine Gesetze. Oder taten sie nur so? Weil sie Angst hatten? Themas konnte es nicht sagen.
Sie kamen zum Mittensee. Themas schaute den kleinen Fischerbooten zu, die über das Wasser segelten. Fischer zu werden, würde ihm gefallen. Nur den Beruf des Schäfers fand er noch besser.
„Ich mag die Boote“, sagte Trischa neben ihm. „Sieh nur, es sind immer zwei Leute in einem Boot.“ Sie schaute ihn mit ihren honigfarbenen Augen an, dass er gleich wieder Herzklopfen bekam. „Würde es dir gefallen, Fischer zu sein, Themas?“
Er nickte.
„Mir auch“, sagte Trischa. „Vielleicht … könntest du dir vorstellen, mit mir zu fischen?“
Themas hielt die Luft an. Ihm wurde warm. „Ääh … ja“, sagte er lahm. Trischa wollte mit ihm …? Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Auf einmal war der Tag viel schöner für ihn.
Trischa fasste nach seiner Hand. „Ob wir das dürfen? Wir könnten die Priester fragen. Warum sollte das Lehm etwas dagegen haben?“
Themas´ Ohren begannen zu summen. Sie wollte mit ihm zusammen sein!
„Das Lehm vielleicht nicht“, flüsterte er, „aber Grutie Umpfbeetl.“
„Die kann sich auch nicht alles erlauben“, wisperte Trischa. „Du hast ja gesehen, wie das Lehm reagiert hat, als sie es übertrieb.“
Themas sah sich hastig um. Niemand war nahe genug, um Trischas Flüstern zu verstehen.
„Es war das erste Mal, dass das Lehm das getan hat“, flüsterte er. „Verlass dich nicht darauf, dass es immer eingreift, wenn Grutie sich zu viel herausnimmt.“ Er zog sie nahe zu sich: „Wir sollten mit diesen Gesprächen warten, bis wir ungestört sind.“
Sie schaute ihm in die Augen und nickte. Schweigend setzten sie ihren Weg fort.
*
In Lehmingen teilte sich der Zug auf. Ein Teil der Leute blieb im Dorf am Mittensee, der andere Teil wanderte nach Lehmberg am Steilkliff. Für die Dauer des Sommerfestes kamen die Leute in den Häusern der Dorfbewohner unter. Für die jungen Leute waren Zelte aufgestellt worden, streng getrennt nach Jungen und Mädchen.
Für den Rest des Tages machte man sich eine schöne Zeit. Freundschaften mit Leuten aus anderen Dörfern wurden erneuert, Neuigkeiten ausgetauscht, Pläne gemacht und durchdiskutiert. Zarte Bande wurden von jungen Leuten geknüpft – während des Sommerfestes wurden etliche Ehen vorbereitet.
Die Kinder und Jugendlichen streiften umher und erkundeten die Gegend. Besonders beliebt waren der See und das Steilkliff. Themas stieg mit Trischa und anderen Jugendlichen auf das Kliff hinauf, um die Aussicht zu genießen. Sein Freund Mirkus mochte nicht mitkommen. Er blieb bei seiner Familie und kümmerte sich um seine kleine Schwester. Hurckie war immer noch verstört und ängstlich.
Es könnte so schön sein, dachte Themas, als er Hand in Hand mit Trischa auf dem Kliff stand und sich seine Heimat von oben anschaute, wenn das Lehm nicht von bösem Leben erfüllt wäre. Wenn es einfach nur eine besondere Landschaft inmitten weiter Wälder wäre, wäre es uns eine wundervolle Heimat. Aber so leben alle in ständiger Furcht. Ich bin sicher, dass niemand von dieser Furcht frei ist. Alle haben Angst. Niemand traut sich, das Lehm zu verlassen und alle geben sie ihre Zweitgeborenen her für dieses ekelhafte Opferritual. Es ist widernatürlich!
Das Lehm ist nicht gut! Das Lehm schützt uns nicht! Es kam von außerhalb der Erde aus dem Weltall, ein Samen, der aufging und sich zu einer bösartigen Lebensform entwickelte. Das Lehm wurde zu einer riesigen Falle, die darauf lauerte, dass Menschen hinein gerieten. Einmal drinnen gab es kein Entrinnen. Onkel und Tante haben es mir erzählt. Sie wussten so viel. Sie wussten sogar, wie man entkommen kann.
Themas glaubte nicht, dass es Zufall war, dass Onkel Jidler und Tante Brilla es geschafft hatten, das Lehm zu verlassen. Sie mussten einen Trick gekannt haben. Er hatte keine Ahnung, was dieser Trick war, aber es musste eine Möglichkeit geben, das Lehm hereinzulegen.
Wenn ich rauskriege, wie es funktioniert, haue ich ab, dachte er. Ich muss nur den Schlüssel zum Verlies finden, damit ich Thimas mitnehmen kann.
Dann dachte er daran, wie seine Eltern sich fühlen würden, wenn er die Heimat auf immer verließ. Das verdarb ihm den Spaß an den Gedanken über eine mögliche Flucht.
*
Am nächsten Tag fand eine Messe vor der heiligen Grotte am Steilkliff statt. Wie üblich stellten sich die Menschen in Halbkreisen vor der Höhle auf. Mook Orpek hielt eine Predigt. Danach meldete sich die Lehma zu Wort.
„Das Lehm hat zu mir gesprochen“, verkündete sie, „und ich soll euch sagen: Es wünscht, dass ein neues Dorf gegründet werde und zwar im Osten. Der Name des Dorfes soll Ostheim sein und alle, die gerne eine neue Heimat mit aufbauen möchten, sollen sich melden.“
Das war eine tolle Neuigkeit. Die Menschen redeten wild durcheinander. Viele wollten gerne dabei helfen, das neue Dorf zu gründen. Sie priesen die kleine Lehma und dankten ihr für die gute Nachricht.
Grutie Umpfbeetl suhlte sich in dem Lob. Dabei hatte sie lediglich einen Wunsch des Lehms mitgeteilt. Sie konnte kaum selbst entschieden haben, dass ein neues Dorf aufgebaut werden sollte.
Oder doch?, fragte sich Themas. Nein, glaube ich nicht. Das Lehm würde ihr wieder einen Rüffel verpassen wie letztens bei uns im Dorf.
Aber das war nur ein einziges Mal geschehen. Sonst hatte das Lehm die Lehma nicht zurückgehalten.
Es folgten die Berufszuteilungen an die jungen Leute, die in diesem Jahr sechzehn Jahre alt geworden waren. Die meisten sollten die Berufe erlernen, die sie sich ausgesucht hatten. Das galt allerdings nicht für alle.
Als Jark Delften aus Lehmtal vortrat und seinen Berufswunsch äußerte, erlebte er eine Enttäuschung. Alle im Lehm wussten, dass Jark seit seiner Kindheit Bronzegießer werden wollte. Immerzu trieb er sich in den Gießereien herum und er hatte bereits viel übers Bronzegießen gelernt.
Doch es kam anders. „Es tut mir leid, lieber Jark“, sprach Grutie Umpfbeetl mit zuckersüßer Stimme, „aber das Lehm sagt mir, dass du ein Fischer werden wirst.“
Jark Delften stand da wie erschlagen. Fischer? Jeder wusste, dass das genau der Beruf war, den er auf keinen Fall lernen wollte. Jark mochte kein tiefes Wasser und er stieg niemals freiwillig in ein Boot. Alles, was er wollte, war, Bronzegießer zu werden.
„Es geht wirklich nicht anders“, säuselte die kleine Lehma. „Es ist der Wille des Lehms.“
Themas sah die boshafte Freude in den Augen des Mädchens. Im fiel ein, dass Jark Delften vor einigen Wochen einen Streit mit der Lehma gehabt hatte. Es war um etwas ganz Banales gegangen, aber Grutie hatte sich den Vorfall anscheinend gemerkt. Nun rächte sie sich an Jark. Themas war absolut sicher, dass das Lehm keinen Piep von sich gegeben hatte. Es war Gruties Wunsch, Jark unterzubuttern und ihm das Leben schwer zu machen.
Er wartete darauf, dass das Lehm Grutie zurechtweisen würde, doch nichts geschah. Diesmal ließ es seiner kleinen Priesterin die Gemeinheit durchgehen.
Du mieses kleines Aas!, dachte Themas. Du bist ekelhaft!
Aber er konnte nichts gegen Grutie Umpfbeetl ausrichten. Das Wort der Lehma war Gesetz. Man musste Grutie gehorchen.
Das Lehm unternahm nichts. Grutie bekam ihren Willen. Das kleine, nachtragende Biest kam mit seinen Machenschaften durch. Jark Delften musste Fischer werden.
Themas schaute Grutie wütend an. Er stellte sich vor, wie die kleine Zicke aufs Kliff hinauf stieg, um sich das Lehm von oben anzuschauen und an der Steilkante stolperte und hinunterfiel und sich dabei das Genick brach.
Er war nicht der Einzige, der sauer war. Als er sich umsah, erkannte er dass viele Leute die Verkündigung der Lehma mit großem Missfallen aufnahmen. Doch niemand wagte es, zu widersprechen.
Gehässiges Dreckbiest!, dachte Themas. Der Tag war ihm verdorben. Er wollte nur noch nach Hause. Das Sommerfest machte ihm keinen Spaß mehr.
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