„Ach, da bist du, Mario“, rief Marie, eine Krankenschwester, mit der Mario oft Dienst hatte. Sie schob ihren Kopf mit den braunen Haaren und rötlichen Strähnen durch den Türspalt hindurch. Sie hatte entweder die Tür sehr geräuschlos geöffnet oder Mario war so sehr in Lillys Geschichte von früher vertieft, dass er sie nicht bemerkte.
„Ja, ich komme“, erwiderte er hastig, als er hoch schreckte. Lilly erschreckte sich auch etwas, aber eigentlich eher deswegen, weil Mario so zusammenfuhr. Mario sprang dann auch tatsächlich auf und verabschiedete sich schnell von ihr. In seinem Blick war etwas Flehendes, so als wollte er sagen, wir müssen das bei Gelegenheit wiederholen. Er klebte an ihren Lippen, als sie in jeder Einzelheit beschrieb, wie es sich vor ungefähr drei Jahren zutrug. Sie lächelte ihm noch zu und dann war er auch schon mit der Krankenschwester auf dem Flur.
Die Mittagessenszeit im Krankenhaus war längst vorüber. Lilly lag mit dem Rücken zur Tür gewandt in ihrem Bett. Sie war nicht fußkrank, hätte also ohne großen Aufwand in den Gemeinschaftsraum gehen können und so andere Kinder kennen gelernt. Doch nach anderen Menschen war ihr nicht zumute, nicht mal nach spielen. Lilly lag im Bett, sah hinaus in den windigen Frühnachmittag und weinte. Sie wusste nicht, wann ihre Mutter nach Hause gegangen war, aber es waren schon Stunden seitdem vergangen. Hatte sie ihr nicht unmissverständlich klar gemacht, dass es kurz bevorstand?
Stechend brannten die Tränen in ihren Augen. Jedes Mal wenn sie sie zusammenkniff, liefen die Tränen in Strömen von ihrem Gesicht und befeuchteten das Kissen. Das Mädchen versuchte nicht zu viele Geräusche zu machen, aber manchmal ließ es sich nicht vermeiden, tief durch die Nase einzuatmen. Beim wieder ausatmen machte sie ein pfeifendes Geräusch, das sie beinahe zum Lachen brachte, doch danach stand ihr kaum der Sinn. Lilly hatte Angst. Angst, dass die seltsamen Veränderungen eintraten, bevor ihre Eltern sie aus dem Krankenhaus retten konnten. Angst, dass jemand außerhalb der Familie von ihrem Geheimnis erfahren konnte. Lilly hatte sogar Angst, ihre Mutter und ihren Vater nie wieder zu sehen, weil man sie ihnen wegnehmen würde, erführen diese komischen Ärzte die Hintergründe von Lillys Aufenthalt in der Kinderklinik. Daraus ergab sich auch eine große Furcht davor zu sterben. Daran wollte Lilly zwar nicht denken, es ließ sich aber nicht vermeiden.
Lilly zog die Decke über den Kopf. Darunter war alles irgendwie besser, weil die Außenwelt es nicht schaffte, zu ihr durchzudringen.
Warum kann ich denn nicht so sein, wie normale Kinder? fragte sie sich immerzu. Sie brüllte es regelrecht in sich hinein und versuchte ihren Verstand zu zwingen, ihr eine Antwort zu geben. Doch er blieb stumm oder antwortete ihr auf subtile und beängstigende Weise, in dem er ihr diese schrecklichen Bilder schickte. Seit Tagen träumte sie immer das gleiche. Sie lief auf einer wunderbaren saftigen Wiese an einem beispiellosen Sommernachmittag umher und pflückte einen Strauß Blumen für ihre Mutter. Im Hintergrund befand sich ihre Heimatstadt, von der sie bloß instinktiv wusste, dass sie dort lebte. Rein äußerlich hatte sie keinerlei Ähnlichkeit mit einer Stadt, die Lilly kannte. Ohne das geringste Anzeichen dafür, legte sich dann urplötzlich ein dunkler Schatten über die Wiese, die Stadt und einfach alles in Lillys Sichtweite. Ein Himmelskörper von gigantischen Ausmaßen und einer wolkenartigen Struktur tauchte unvermittelt auf. An dieser Stelle träumte das Kind zwei weiterführende Variationen des Traums. Entweder rannte sie zurück in die Stadt, zurück nach Hause und wurde Zeuge der vernichtenden Wirkung des Himmelskörpers oder sie schien sich im Inneren zu befinden. Dort begegneten ihr dieselben Monster, die sie ohne bewusste Teilnahme im Kindergarten bereits gemalt hatte. Was dieser Traum bedeutete und auch die beiden Variationen, wusste sie nicht. Seit Neuem allerdings verblasste dieser Traum zusehends und ein anderer Traum kam zum Vorschein. Es war ein Traum, den Lilly scheinbar beeinflussen konnte, zumindest aber genau beobachten. Sie sah sich selbst, irgendwann in der Zukunft, konnte aber nicht aktiv am Geschehen teilnehmen. Sie sah sich, ihre Eltern und jemanden, den sie nicht genau erkennen konnte, wie sie zusammen durch eine Schneise im Wald fuhren. Irgendwann erreichten sie eine Lichtung und der Vollmond schien hell durch die Baumkronen.
Lilly kroch noch tiefer unter die Decke, versuchte sich mit ihr zu verknäueln. Es war der klägliche Versuch, sich vor diesen Gedanken zu verstecken, doch sie waren stärker als sie. Sich das Bild ihrer Eltern in den Geist zu rufen, war keine sehr effektive Ablenkung. Monströse Gestalten nahmen sich ihrer an, Gestalten, die sie bereits zuvor in Träumen sah. Diesmal setzte der Traum nicht auf der Wiese ein, sondern direkt bei den Wesen des mysteriösen Himmelskörpers. Aber war es denn das überhaupt? Ein Traum? Lediglich Bilder drangen zu ihr durch, Bilder der grässlichen Fratzen dieser Monster, Bilder aus dem Inneren des Himmelskörpers und von Geschehnissen wie die donnernde Rede, die der vermeintliche Anführer hielt.
Lilly begann unter der wärmenden Decke vor Angst zu zittern. Nichts mehr wünschte sie sich, als dass diese alptraumhaften Visionen ein Ende fanden. Gerade wollte sich das kleine Mädchen wieder mit Gedanken an ihre Eltern ablenken, da sah sie sie plötzlich. Zunächst war sie verwirrt, wollte hochschrecken und sie in ihre Arme schließen, doch dann erfasste sie die Situation erst richtig. Es war wieder dieser Traum, in dem sie sich mit ihren Eltern und diesem Unbekannten im Auto befand. Vorsichtig blickte sie um sich. Den Unbekannten erkannte sie noch immer nicht, aber etwas in seiner Präsenz schien ihr vertraut. Ein seltsamer Schatten lag auf ihm; vielleicht war Lilly auch nur durch etwas abgelenkt, das einen beträchtlichen Teil ihrer Aufmerksamkeit verlangte.
Der Vollmond schien auffallend hell durch die dürren Äste. Der Wagen erreichte die Lichtung, in dessen Mitte ein konischer Steinblock stand. Drumherum waren Baumstümpfe angeordnet, offensichtlich absichtlich, denn einige standen schief. Wie Lilly diese Szenerie so sah, hell erleuchtet von Mondlicht, beschlich sie auf einmal der Verdacht, schon mal hier gewesen zu sein.
Als sie anhielten und aus dem Wagen stiegen, hatte sie ihre Antwort: sie befanden sich auf dem Camping-Platz, den Lilly und ihre Eltern jedes Jahr im Sommer aufsuchten. Lilly liebte diese gemeinsame Campingzeit, vor allem weil sie die Natur und die frische Luft so sehr liebte. Es war keine sechs Wochen her, dass die drei zuletzt hier waren. Zu der Zeit hatten sie, was das Wetter betraf, wenig Glück, denn es regnete. Mutter und Vater machte das sehr zu schaffen, doch Lilly fühlte sich ganz in ihrem Element. Am meisten liebte sie das Geräusch, das der prasselnde Regen beim Auftreffen auf das Zeltdach erzeugte, wenn sie im Inneren lag und zu schlafen versuchte. Stundenlang konnte sie dieses Geräusch in seinen Bann ziehen, bis sie irgendwann selig und überglücklich in den Schlaf driftete. Doch wieso brachten diese Visionen sie wieder zurück an diesen Ort? So viele gute Erinnerungen verband sie mit diesem Camping-Platz; das sie ausgerechnet hier landete, bereitete ihr starkes Unbehagen.
Es gab einen Sprung. Eine andere Szene bot sich Lilly. Die vier Personen befanden sich nun am konischen Steinblock, der bei dem Familienausflügen den Tisch darstellte. Mutter, Vater und der Unbekannte hielten sich an den Händen und bildeten einen Kreis um Lilly, die in deren Mitte auf dem Stein hockte. Lilly beobachtete diese Ereignisse aus sicherer Entfernung. Von weitem hörte sie ein Jaulen, erzeugt von Sirenen wie die der Feuerwehr, Polizei oder einem Rettungswagen. Lilly beobachtete sich selbst, wie sie irgendetwas zu den dreien sagte. Dann spürte sie allmählich eine unsichtbare Kraft, die sie näher an das Geschehen heranzog. Sie konnte tun was sie wollte, nichts konnte sie dem entgegensetzen. Jeder Widerstand kostete sie nur noch mehr Kraft also ließ sie es einfach mit sich geschehen. Lilly näherte sich ihrem Selbst auf dem Steinblock; schwebte an den dreien vorbei und verschmolz auf seltsame Weise mit sich selbst. Ein Gefühl, als begriffe sie nun vollkommen, was mit ihr geschehen sollte überkam sie. Es war ein wunderbar helles und wärmendes Gefühl, so wie in eine Bettdecke eingehüllt zu sein. Lange konnte sie dieses Gefühl allerdings nicht genießen, denn die Veränderung schien einzusetzen. Noch immer konnte sie sich keinen Reim darauf machen, was diese Veränderung war und was sie letztendlich bewirken sollte, aber es fühlte sich mit einem Male nicht mehr so wunderbar an. Wieder setzten Krämpfe ein. Das Kind wandte sich schnell hin und her, sowohl auf dem Stein, als auch eingekuschelt in der Bettdecke.
Die seltsame Vision von ihrer Veränderung auf dem Campingplatz verließ sie, wurde allmählich farblos und hohl. Die Geräusche, die sie zuvor noch wahrnahm, wurden immer dumpfer, bis sie schließlich nicht mehr an sie herankamen. Nun nahm Lilly wieder die Umgebung der Wirklichkeit wahr, in der sie sich krampfend und schnaufend im Bett von einer Seite zur anderen warf.
Mama! Papa!! brüllte Lilly aus vollen Leibeskräften in den Raum hinein, aber auch in sich selbst. Sie bekam nur eine Antwort, die ihrer Mutter. Sie schickte ihr eine Botschaft, bald seien sie bei ihr. Das allein mochte Lilly vielleicht beruhigen können, aber sie verlor die Kontrolle über ihren Körper und schüttelte sich in einem fort.
__________________ For I dipt into the Future, far as human Eye could see,
Saw the Vision of the World and all the Wonder that would be.
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