Die zwei ineinander verdrehten Bäumchen(2) |
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Zwei oder drei Wochen nach dem Ende der Sommerferien fuhr ich noch einmal mit dem Rad nach Beeden. Den ganzen Weg lang erlebte ich eine Art Replay der Vorfreude, die ich in den Ferien jedes Mal gefühlt hatte, wenn ich zu Melanie an den Silbersee fuhr. Es war schön, auch wenn mir recht wehmütig ums Herz war.
In Beeden fuhr ich zuerst zum Wartehäuschen bei der Bahn. Ich wollte kontrollieren, ob unsere „Liebesbäumchen“ sich noch umarmten.
Sie taten es. Sie waren immer noch miteinander verflochten, ganz so wie Melanie und ich sie Wochen zuvor zurückgelassen hatten. Während ich die Straße hinunter radelte zum Silbersee, dachte ich an Melanie, an ihre grauen Augen mit dem leichten Grünschimmer, die mich so oft angeschaut hatten, an ihr flatterndes dunkelblondes Haar im Wind, an ihre hübschen Kniekehlen, die meine Blicke angezogen hatten, an ihre schmale biegsame Gestalt, an ihre Freude, wenn wir zusammen was unternahmen und an ihr wundervolles Lachen. Und ich dachte an ihre unmöglichen Klamotten, an die Sachen die aussahen, als stammten sie aus der Altkleidersammlung und an die Tatsache, dass dieses ärmliche Aussehen gleich am ersten Tag dazu geführt hatte, sie trotzdem zu mögen. Gerade weil sie so daher kam, hatte ich mich zu ihr hingezogen gefühlt.
Ein ganzes Jahr!
Ein ganzes Jahr lang würden wir uns nicht sehen. Aber unsere Liebe würde bestehen bleiben, dessen war ich mir absolut sicher. Eine solche Liebe wie unsere musste ewig währen. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass diese Liebe die Zeit überdauern würde.
Ich fuhr zum Silbersee, um mich noch einmal in allen Einzelheiten an Melanie zu erinnern. Ich wollte nach Wasserkäfern und Stichlingen schauen und mir dabei vorstellen, dass sie an meiner Seite war.
Es war ein Schock, das Schiffchen zerstört am Ufer vorzufinden. Mein Schiffchen! Auf den ersten Blick erkannte ich, dass man es mutwillig kaputt gemacht hatte, es regelrecht vernichtet hatte. Große Schuhabdrücke im Sand erzählten die Geschichte der Zerstörung. Die kleine Segeljacht war kaputt getrampelt worden – aus reinem Mutwillen, aus purer Gemeinheit.
„Ihr Dreckschweine!“ wisperte ich. Ich fühlte Wut und unendliche Traurigkeit. Warum musste es Menschen geben, die nichts anderes konnten, als anderen alles kaputt zu machen!? Warum tat jemand so etwas Dreckiges?!
Ich kontrollierte unser Versteck. Melanies kleines Plastikbecken war verschwunden.
„Ihr Schweine!“ flüsterte ich. „Ihr gottverdammten Dreckschweine!“
Wenn das mal kein schlechtes Omen war!
Mir verging die Lust zu bleiben. Ich hatte keinen Bock mehr, Wasserkäfer und Libellenlarven zu beobachten. Der Ort war besudelt. Besudelt von der widerlichen Gemeinheit von dreckigen Arschlöchern, die nichts als Zerstörung und Brutalität im Kopf hatten. Überall gab es diese ekelhaften Dreckschweine. Sie drangsalierten kleinere Kinder und schlugen sie zusammen. Sie zerstörten die Häuschen, die andere Kinder sich unter großen Mühen gebaut hatten. Sie machten alles kaputt – einfach so. Dreckschweine!
Ich fuhr traurig nach Hause. Ich mochte nicht mehr bleiben. Erst im nächsten Jahr würde ich wiederkommen, um Melanie zu treffen.
*
Im Jahr darauf war ich wesentlich schneller unterwegs, als ich nach Beeden fuhr. Im April hatte ich endlich ein richtiges Fahrrad bekommen, ein Herrenrad mit 26-Zoll-Reifen und einer Dreigangschaltung. Es lief schnell wie der Wind.
Ich hatte es eilig. Mir lief die Zeit davon. Wie ein Damoklesschwert hing der mir aufgezwungene Ferienaufenthalt bei Tante Anni und Onkel Walter über mir. Ich hatte nicht hingewollt, aber ich wurde gezwungen. Erst hieß es: Für eine Woche. Aber aus einer Woche wurden zwei und zum Schluss sogar drei. Es war zum Kotzen! Warum konnte ich nicht zuhause bleiben?! Ich wollte nicht zu diesen Leuten.
Mir blieben nur die ersten drei Wochen der Ferien, um mit Melanie zusammen zu sein. Aber die wollte ich voll ausnutzen. Ich würde jeden Tag direkt nach dem Frühstück ausrücken und den ganzen Tag mit Melanie verbringen. Es gab keinen Zwang mehr und keine Angst.
Moppel war fort. Sie war irgendwann mit ihrem nervenden Sohn Walter abgehauen. Wohin, war mir egal. Hauptsache, sie war fort.
Das Johanneum war ich ebenfalls los. Ich war zum zweiten Mal sitzengeblieben und musste die widerliche Schwulenschule deshalb verlassen. Mein Vater hatte getobt, aber ich hatte innerlich frohlockt. Nach den Ferien würde ich die vierjährige Aufbaurealschule in Bexbach besuchen. Endlich raus aus der ständigen Angst vor dem Dreckskerl, der mich missbraucht hatte, als ich zehn Jahre alt war, raus aus den Albträumen. Ich fühlte, dass mein Leben von Stund an besser verlaufen würde. Die Zukunft lag keineswegs rosig vor mir, aber es konnte nur besser werden.
Und Melanie war die Schlagsahne obendrauf.
An diesem ersten Ferientag war ich noch nicht frühmorgens aufgebrochen, weil ich mir dachte, dass sie wohl erst nach dem Mittagessen am Silbersee auf mich warten würde. Ich wollte nicht unnötig rumhängen und vor Sehnsucht nach ihr vergehen. Ich wollte vom Rad springen und sie anschauen und in die Arme nehmen. Mein Herz schlug vor Freude.
Ob sie gesehen hatte, dass unser Schiffchen und ihr kleines Aquarium weg waren? Ich hatte kein neues Schiffchen gebaut. Ich war inzwischen vierzehn und sie dreizehneinhalb. Ich wusste nicht recht, ob sie noch Lust hatte, ein kleines Segelschiff auf dem Silbersee schwimmen zu lassen. Falls doch, würde ich noch am gleichen Abend eins bauen. Die Einzelteile lagen zuhause bereit.
Ich kam zum Silbersee. Er lag da, wie ich ihn im Jahr zuvor verlassen hatte.
Melanie war nicht da.
Konsterniert blickte ich in die Runde. Wo war sie? War sie etwa noch nicht bei ihrer Tante? Aber im Jahr zuvor war sie gleich am ersten Ferientag am Silbersee aufgetaucht.
Vielleicht kommt sie etwas später, überlegte ich. Vielleicht hat sie bei ihrer Tante noch etwas zu tun.
Doch mich beschlich der leise Verdacht, dass Melanie nicht bei ihrer Tante war. Es konnte doch sein, dass sich ihr Besuch in Beeden verschoben hatte. Letztes Jahr hatte sie die ersten vier Wochen der Ferien bei ihrer Tante verbracht. Vielleicht würde sie dieses Jahr eine Woche später kommen, oder – mir blieb das Herz stehen – sie würde die letzten vier Ferienwochen in Beeden sein.
Oh nein!
Das würde bedeuten, dass uns nur eine einzige gemeinsame Woche verblieb. Eine grässliche Vorstellung.
Ich wartete den ganzen Nachmittag. Melanie kam nicht. Schließlich radelte ich die Straße neben der Bahn entlang. Da waren sie: Die ineinander verdrehten Bäumchen. Der Beweis unserer ewigen Liebe. Sie waren nur unwesentlich größer geworden. Sie reichten mir bis zum Gürtel, aber sie waren immer noch dünn. Ich überlegte, ob ich sie weiter oben auch zusammenflechten sollte, weil sie ja gewachsen waren, aber dann ließ ich es lieber sein. Die Bäumchen sollten so bleiben, wie Melanie und ich sie ineinander verdreht hatten. Wenn überhaupt, würde ich daran nur zusammen mit Melanie etwas ändern.
In den folgenden drei Wochen fuhr ich jeden Nachmittag zum Silbersee. Mit jedem Tag, der verging, wurde ich unruhiger. Ein letztes Mal bekam ich Auftrieb, als die letzte Woche vor meinem Ferienaufenthalt bei Tante Anni und Onkel Walter begann. Wenn Melanie dieses Jahr die letzten vier Wochen der Sommerferien bei ihrer Tante in Beeden verbringen würde, musste sie jetzt auftauchen.
Sie kam nicht. Montags nicht. Dienstags nicht. Nicht am Mittwoch und nicht am Donnerstag. Blieben noch Freitag, Samstag und Sonntag.
Aber immer lag der Silbersee verlassen da. Melanie kam nicht.
Sonntags hatte ich ein sauber ausgewaschenes Marmeladenglas mit festem Metalldeckel dabei und einen Brief an Melanie, den ich zuhause geschrieben hatte. Ich schrieb ihr, dass ich die zweite Ferienhälfte leider bei entfernten Verwandten weit weg verbringen müsste, dass ich aber die letzten drei Ferientage wieder im Lande sei und auf jeden Fall zum Silbersee kommen würde. Ich bat sie, auf mich zu warten. Für den Fall, dass sie mir etwas mitzuteilen hätte, ließ ich zwei leere Blatt Papier und einen Bleistift im Glas bei dem Brief zurück. Das Glas deponierte ich dort, wo wir im Jahr zuvor mein Segelschiffchen und das kleine Plastikbecken versteckt hatten. Zwar bestand die Möglichkeit, dass die Pisser, die im Jahr zuvor mein Schiffchen zerstört hatten, die Nachricht fanden, aber ich glaubte kaum, dass die Kacker sich die Mühe machen würden, das Versteck noch einmal zu suchen, falls sie überhaupt diesen Sommer zum Silbersee kommen würden.
*
Montags gings zu Tante Anni und Onkel Walter. Für mich fühlte es sich an wie eine Sträflingsdeportation, aber ich wurde gezwungen. Drei Wochen lang hasste ich mich durch die langweiligen Tage. Hatte sich Melanie all die Jahre genauso gefühlt, wenn sie in den Sommerferien zu ihrer Tante nach Beeden musste?
Besonders unangenehm war die Lektüre eines Buches, das mir Tante Anni schenkte: David Copperfield von Charles Dickens. Der Roman war super, aber es gab da etwas, das mich ziemlich bedrückte.
Der kleine David Copperfield besucht mit seiner Tante Verwandte an der See und er freundet sich mit einer gleichaltrigen Cousine an. Sie heißt Emily. Die zwei sind unzertrennlich und sie lieben sich.
Als David im Jahr darauf wiederkommt, will Emily nichts mehr von ihm und der „ewigen Liebe“ wissen.
Beim Lesen dieser Passage bekam ich ein kaltes Gefühl im Bauch. War es mit Melanie und mir vielleicht genauso? Liebte sie mich nicht mehr? Hatte sich die Zuneigung zu mir verflüchtigt? Hatte sie mich vergessen? Abgehakt?
Gern war sie nicht bei ihrer Tante zu Besuch. So viel hatte ich heraus gehört, wenn sie im Jahr zuvor darüber sprach. Sie fühlte sich abgeschoben und wollte nicht nach Beeden. Hatte sie die Ferienaufenthalte bei ihrer Tante genauso gehasst wie ich meine drei Sträflingswochen bei Tante Anni und Onkel Walter? Hatte sie sich gegen einen erneuten Ferienaufenthalt in Beeden gewehrt?
Ich war jedenfalls ziemlich fertig deswegen. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.
*
Dann war ich endlich wieder daheim in Bexbach. Gleich am Freitagmorgen raste ich nach Beeden. Das Marmeladenglas mit meiner Nachricht an Melanie stand unberührt im Versteck.
Melanie war nicht da. Ich wartete den ganzen Tag. Mir sank der Mut. Mir wurde klar, dass sie dieses Jahr überhaupt nicht nach Beeden gekommen war, aus welchem Grund auch immer. Trotzdem war ich auch samstags und sonntags da und wartete auf sie. Ich konnte nicht anders. Eine große Hoffnungslosigkeit machte sich in mir breit. Es begann richtig wehzutun.
Sonntags schrieb ich unter meinen Brief eine neue Nachricht. Ich bat Melanie, sich bei mir zu melden, falls sie mal zwischendurch zu ihrer Tante zu Besuch käme. Ich hinterließ unsere Telefonnummer und einen frankierten Briefumschlag mit meiner Adresse, falls sie kein Geld für eine Briefmarkte hätte.
Dann hockte ich todunglücklich auf der Bank im Wartehäuschen an der Bahn und dachte über Melanie nach. Warum war sie nicht gekommen? Wilde Spekulationen tobten durch meinen Kopf. War sie tot? Gestorben? Es gab auch bei Kindern Krebs. Leukämie war besonders häufig. Hatte sie im Jahr zuvor nicht arg dünn und trotz Sommersonne blass gewirkt? Hatte sie einen tödlichen Autounfall gehabt? War sie mit ihren Eltern umgezogen? War die Tante aus Beeden weggezogen? Hatte es Familienkrach gegeben und Melanie hatte nicht zur Tante in Beeden gedurft?
Ich kam nicht dahinter. Es machte mich verrückt.
Als ein Schienenbus vorbeifuhr, hätte ich beinahe geweint. Mein Herz war wund vor Schmerz. Ich fühlte eine solch allumfassende Traurigkeit wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es tat richtig weh. Ich hatte nicht gewusst, dass einem das Herz dermaßen wehtun konnte.
Schließlich musste ich nach Hause. Ich fuhr zu den beiden ineinander gedrehten Bäumchen und schaute sie an.
Melanie!, dachte ich. Melanie!
Dann fuhr ich nach Hause.
*
Im Verlauf des neuen Schuljahres fuhr ich gelegentlich zum Silbersee und kontrollierte das Marmeladenglas. Anfangs war ich beinahe jede Woche dort, aber als der Herbst kam, und ich nichts von Melanie hörte, kam ich immer seltener, bis ich nach einem letzten Besuch im beginnenden Frühling weg blieb.
*
Erst als die Sommerferien anfingen, fuhr ich wieder nach Beeden.
Ich machte mir nichts vor. Es war ziemlich sinnlos. Das war mir klar. Ich war jetzt fünfzehn und Melanie vierzehneinhalb. Wir hatten uns zwei Jahre lang nicht gesehen. Wir waren älter geworden. Wir hatten jeder für sich unser Leben weitergelebt.
Und doch musste ich hinfahren – zum Silbersee.
Das Marmeladenglas stand noch immer unberührt in unserem ehemaligen Versteck. Von Melanie keine Spur. Ich hinterließ ihr eine neue Nachricht in der Hoffnung, dass sie vielleicht dieses Jahr nach Beeden kommen würde. Große Hoffnung hatte ich keine.
Als ich neben der Bahn entlang radelte, fand ich die zwei ineinander verdrehten Bäumchen nicht mehr. Ich war baff. Hatten die das Stück Land neben den Gleisen mit einer Buschsäge gemäht? Hatte jemand die Bäumchen ausgerissen? Oder waren sie einfach nur von anderen Gewächsen überwuchert worden? So sehr ich auch schaute, ich fand sie nicht.
Es tat nicht so weh wie ein Jahr zuvor. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, wenn man jung ist. Ich war nicht voller Traurigkeit. Aber das Herz tat mir ja doch ein bisschen weh.
Ich ging ins Freibad und ich machte Radtouren. Ich traf mich im Freibad mit Mädchen. Ich hatte einen schönen Sommer. Aber ich dachte immer mal wieder an Melanie. Ich kam jede Woche einmal zum Silbersee und kontrollierte das Glas mit meiner Nachricht an sie. Es stand nach wie vor unberührt im Versteck.
Nach den Ferien fuhr ich nicht mehr hin.
*
Mit sechzehn Jahren fuhr ich am ersten Ferientag noch einmal hin. Ich wusste, dass das totaler Quatsch war, aber ich konnte nicht anders. Es war wohl so, dass ich einfach nach einer Antwort suchte. Ich wollte gerne wissen, warum sie nicht gekommen war. Waren wir auf schmerzliche Weise von einem grausamen Schicksal getrennt worden oder hatte sich bei ihr die „große Liebe“ einfach im Laufe eines Jahres verflüchtigt? Inzwischen war ich alt genug, um ziemlich genau zu wissen, dass Letzteres geschehen war. So ging es nun einmal im Leben. Ich konnte es verstehen und ich akzeptierte es ohne Wenn und Aber.
Ich hatte einen neuen Brief für Melanie dabei. Ganz cool kam der daher mit „Hi Melanie, kennst du mich noch? Erinnerst du dich an den Sommer vor drei Jahren? Wär vielleicht ganz nett, wenn wir uns mal treffen könnten, um miteinander zu quatschen. Ich spendier dir ein Eis.“ Ich hinterließ Telefonnummer und Adresse und einen neuen Briefumschlag mit Marke, denn inzwischen kostete ein Brief mehr als im Jahr zuvor.
Natürlich glaubte ich nicht daran, etwas von Melanie zu hören.
In der letzten Ferienhälfte fuhr mein Vater mit meinen kleineren Geschwistern in Urlaub. Ich blieb bei den Großeltern im Haus und hatte meine Ruhe. Vor allem konnte ich jeden Tag am Fernseher meines Vaters schauen, was ich wollte.
Damals kam jeden Sonntag ein Film mit den Beatles. Zuerst der wirklich tolle Schwarzweißfilm von 1964. Sonntags drauf kam „Help“. Der war schon nicht mehr so doll. Viel zu viel Klamauk, fand ich. Am letzten Feriensonntag kam dann der Zeichentrickfilm „Yellow Submarine“; ein dämlicher psychedelischer Scheiß. Nach dreißig Minuten schaltete ich den Fernseher aus. Der Film war unerträglich. Nein, einen solchen Blödsinn würde ich mir nicht antun.
Stattdessen holte ich mein Rad aus dem Keller und fuhr noch einmal nach Beeden.
Melanie war nicht da gewesen. Das Marmeladenglas stand unberührt, und die verdrehten Bäumchen fand ich auch diesmal nicht. Wahrscheinlich existierten sie nicht mehr, waren irgendeiner Flurbereinigungsaktion zum Opfer gefallen. Das machte mich ein wenig betroffen. Der sichtbare Beweis für unsere Liebe war weg. Das fand ich schade. Aber inzwischen war jener Sommer mit Melanie weit fort in der Vergangenheit, eine schöne Erinnerung. Viel mehr war es nicht mehr für mich.
Ich fuhr nach Bexbach zurück und kehrte nie wieder. Der Sommer mit Melanie wurde in meinem Herzen zu einer Art Legende. Gelegentlich dachte ich an sie, aber nur selten. Es wurde zu einem Buch in dem großen Regal voller Erinnerungen. Die Traurigkeit verblasste. Auch die Erinnerung verblasste ein Stück weit. Andere Dinge in meinem Leben wurden wichtig. Mit Anfang Zwanzig dachte ich praktisch gar nicht mehr an Melanie.
Das Buch mit der Erinnerung stand im Bücherregal, aber ich zog es nicht heraus. Es blieb ebenso unberührt wie das Marmeladenglas in unserem ehemaligen Versteck.
*
Ich machte während meiner Lehre nicht mehr so viele Radtouren. Ich musste morgens mitten in der Nacht aufstehen und war nachmittags oft einfach zu groggy, um Rad zu fahren.
Nach der Lehre wurde ich Soldat auf Zeit und war fast zwei Jahre von zuhause fort. Ich kam nur am Wochenende nach Hause. Meine geliebten Radtouren starben fast aus.
Erst mit Mitte Zwanzig wurde ich heimatnah stationiert und ich kaufte mir ein Mountainbike. Mit diesem Rad war ich häufig unterwegs und ich benutzte, wo es möglich war, autofreie Nebenwege, kleine Feld- und Wirtschaftswege und Waldwege. Seltsamerweise fuhr ich sehr selten in der Gegend rund um den Silbersee herum. Vielleicht deshalb weil es mich damals zumeist weit hinaus zog. Ich benutzte die Wege im Umkreis von fünfzehn Kilometern rund um Bexbach nur als „Ausfallstraßen“, um weiter raus zu kommen und der Weg, der am Silbersee entlang führte, gehörte nicht zu diesen Ausfallstraßen, weil er kurz hinterm Klärwerk am Erbach einfach mitten in den Wiesen endete und nirgends hinführte.
Heute ist da anders. Auf dem gleichen Weg kann man ewig weiterfahren bis nach Frankreich, durchs gesamte Bliestal.
Dann hatte ich diesen seltsamen Traum. Ich hatte ewig nicht mehr an jenen Sommer mit Melanie gedacht. Das war so weit weg. Es war eine Erinnerung unter vielen und sie interessierte mich nur gering. Ich war mit der Realität vollauf beschäftigt. Wie eh und je rannte ich jedem Rock hinterher, auch wenn die Röcke seit Mitte der Siebziger zumeist Jeanshosen waren. Aber mir kam es ja auf den Inhalt dieser „Röcke“ an. Ich war ein recht fleißiger Schürzenjäger.
Dann dieser Traum, als ich Mitte Zwanzig war. Er kam aus heiterem Himmel und ohne jeden Anlass. Es war einer dieser Träume, in denen man eine fremde Person beobachtet und doch gleichzeitig die Gefühle dieser Person exakt fühlen kann, als wäre man selbst diese Person.
Es ging um Melanie. Es war die Melanie von 1975. Es war ein Jahr später und Melanie freute sich unbändig, mich in den Ferien 1976 wieder zu sehen. Im Traum war sie nicht einen Tag älter geworden. Sie sah so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte und der Traum war fast farblos, beinahe schwarzweiß.
Im Jahr vorher war sie samstagsmorgens von ihrer Tante mitsamt ihrem Köfferchen in Homburg in den Zug gesetzt worden und allein nach Hause gefahren. Zuhause war irgendwo in der Nähe von Saarlouis. Sie merkte sich die Geldsumme, die die Fahrkarte gekostet hatte.
Ein Jahr später erfuhr Melanie dann kurz vor den Ferien, dass sie nicht nach Beeden zur Tante konnte. Die Tante war weggezogen oder sonstwas.
Melanie war am Boden zerstört. Sie war völlig verzweifelt. Sie erinnerte sich an den Fahrpreis ein Jahr zuvor und fing an, ihr karges Taschengeld zu sparen, um die doppelte Geldsumme zusammen zu bringen, denn für einen Besuch in Beeden per Bahn würde sie eine Rückfahrkarte brauchen.
Kurz vor Ferienende hatte sie das Geld mit Ach und Krach zusammen und lief mit klopfendem Herzen zum Bahnhof. Sie fragte am Schalter höflich nach dem Preis einer Rückfahrkarte von Saarlouis nach Homburg. Die Antwort war ein Schock. Die Bahn hatte die Fahrpreise erhöht und ihr fehlten rund drei Mark. Das Geld reichte nicht.
Im Traum fühlte ich ihr Erschrecken und ihre Fassungslosigkeit. Sie bedankte sich höflich. Ihre Stimme war nur ein leises Piepsen. Dann ging sie mit hängenden Schultern zum Bahnhof hinaus und lief neben den Gleisen entlang. Ihre Traurigkeit überschwemmte mich wie eine Flutwelle. Ihre Verzweiflung war nicht auszuhalten.
Schließlich begann sie schrecklich zu weinen. Sie stand neben den Bahngleisen und weinte bitterlich. Sie wusste, dass sie nicht den Hauch einer Chance hatte, in den letzten Ferientagen das Geld für die Zugfahrt zusammen zu bekommen. Sie wusste, es war aus. Das brachte sie schier um. Sie weinte und weinte. Einen so traurigen und verzweifelten Menschen hatte ich noch nie erlebt.
Als ich aufwachte, schwang der Traum lange in mir nach. Er war erschreckend realistisch gewesen.
Ich wunderte mich, wieso ich ausgerechnet von Melanie geträumt hatte. Das war doch alles so lange her. Es war Vergangenheit und ganz sicher hatte es sich nicht so abgespielt wie im Traum. Ich wusste längst, dass bei einer „ewigen Liebe“ in früher Jugend ein Part oft nach wenigen Wochen aufhörte, „auf ewig“ zu lieben. Das war halt so und wahrscheinlich war es bei Melanie genau so gelaufen. Sie hatte mich im Laufe des ersten Jahres schlicht vergessen.
Doch weil ich am folgenden Wochenende eh eine Radtour ins Bliestal plante, machte ich einen Abstecher zum Silbersee. Mir war eingefallen, dass ich das kleine Gewässer nie fotografiert hatte, obwohl ich mit knapp achtzehn Jahren endlich einen eigenen Fotoapparat bekommen hatte.
Also kurbelte ich samstags nach Beeden, um den Silbersee zu knipsen und alten Erinnerungen nachzuhängen.
Der Silbersee war weg.
Zuerst dachte ich, ich hätte mich verfahren, aber nein! Da war die Straße neben der alten Bahnstrecke, die seit Jahren aufgegeben war. Da war das Haus mit der niedrigen Mauer und dahinter war der Weg zu der Bodensenke verlaufen, in der der Silbersee lag. Aber die Senke war fort. Zugeschüttet. Mein Marmeladenglas mit den Briefen an Melanie war begraben unter Tonnen von Sand. Flurbereinigungsmaßnahme Marke Siebziger Jahre! Sie mussten es Ende der Siebzigerjahre oder Anfang der Achtzigerjahre gemacht haben, denn die Stelle war komplett zugewachsen.
Ich war perplex und schalt mich in Gedanken. Warum war ich nicht 1980 im Sommer hergekommen und hatte den Silbersee mit meinem neuen Fotoapparat geknipst? Vielleicht hatte es ihn da noch gegeben. Nun war er fort. Es gab den Platz nicht mehr, wo ich im Sommer 1975 die vielleicht glücklichsten Wochen meines Lebens verbracht hatte.
Natürlich fand ich auch die verdrehten Bäumchen nicht. Darauf hatte ich auch gar nicht gehofft.
Ich machte meine Radtour und dachte nach. Mich wurmte, dass ich mir den Silbersee einfach nicht mehr richtig vorstellen konnte. Wo waren wir eigentlich in die Senke hinuntergefahren? Der Weg war breit und zweispurig gewesen, oder? Und ziemlich flach. Steil war es nur hinten bei der Enteninsel.
Ich war tatsächlich ein wenig traurig, aber auf eine schöne sentimentale Art. Es war, als wenn man im Autoradio diesen alten Song hört, der damals in jenem Sommer immer lief, als man im Urlaub mit Dieser oder Jener zum Zelten gefahren war und man verliebt war und … und … und …
Damals erfasste ich zum ersten Mal, dass die Erinnerung an den Sommer mit Melanie ein Geschenk war. Wer konnte schon von sich sagen, etwas so Wundervolles erlebt zu haben?
*
Ich lebte mein Leben weiter und Melanie geriet in Vergessenheit. Nur selten holte ich das Buch mit der Geschichte jenes fernen Sommers aus dem Regal der Erinnerung und blätterte darin. An die ineinander verdrehten Bäumchen dachte ich eigentlich nicht mehr.
Deswegen war es eine unglaubliche Überraschung, als ich sie im Herbst des Jahres 2005 wiederfand.
An jenem Oktobertag hatte ich keinen Fotoapparat dabei. Damals nahm ich meinen Knipskasten nicht mit, wenn ich nur mal schnell dreißig Kilometerchen in der näheren Umgebung abspulen wollte.
Daher sind die Fotos von später. Ich machte die ersten Aufnahmen am 27. Juni 2006.
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Auf den Fotos sind die Schnittkanten an den abgesägten Ästen bereits verheilt.
Es passte irgendwie, dass ich die Bäumchen gerade im Sommer des Jahres 2006 aufnahm und mich mit der Erinnerung an Melanie beschäftigte. Damals verarbeitete ich beim Schreiben meines Romans „Der Durchgang“ einen schlimmen Teil meiner Vergangenheit.
Ich habe Melanie nie gesagt, dass ich in jenem Frühjahr 1975 so am Ende war, dass ich Selbstmord begehen wollte. Ich erzählte ihr nicht von dem Missbrauch und dass mein Vater nichts unternahm, als ich ihm davon berichtete. Ich erzählte nichts von brutalen Prügeln und meiner Angst vor dem Missbraucher. Man hatte mir ja als Kind immer eingetrichtert, dass ein Missbraucher das Kind nach dem Missbrauch auf bestialische Art und Weise ermordet. Nach dem Vorfall hatte ich in Todesangst gelebt.
Ich hatte Melanie auch nichts jenem unglaublich realistischen Traum im Frühling 1975 erzählt, der mich letzten Endes vom Selbstmord abhielt, von dem Traum vom Königreich Bayern, einer Welt ohne Umweltverschmutzung und ohne gemeine Erwachsene, die Kinder misshandelten. Von dem bayerischen Mädchen Heidi, die im Traum meine Freundin wurde.
Es ist schon komisch. Hätte ich diesen Traum nicht gehabt, hätte ich mich umgebracht und Melanie nie kennengelernt. So aber zog ich mich, wenn es mal wieder ganz schlimm kam, in meine Phantasiewelt zurück und stellte mir auf meinen Radtouren vor, ich würde durch dieses unglaublich tolle Königreich Bayern radeln. Das tat ich am ersten Tag der Sommerferien 1975 auch, als ich zum Silbersee fuhr.
Solange ich mit Melanie zusammen war, konnte ich mich der grausamen Realität stellen und sie ertragen. Wenn ich nur Melanie jeden Tag sehen durfte. Nachdem sie fort war, floh ich wieder gelegentlich in meine Traumwelt.
Erst mit vierzehn Jahren wurde ich erlöst. Ich kam weg vom Johanneum und auf die Realschule in Bexbach.
*
Nachdem ich die Bäumchen wiedergefunden hatte, dachte ich gelegentlich daran, eine Geschichte daraus zu machen. Schon 2005 begeisterte mich diese Idee. Es würde eine wunderbare Geschichte werden über Herzschmerz und schöne Erinnerungen an die erste Liebe.
Aber ich schrieb die Geschichte nicht. Nicht 2005 und auch nicht 2006, als das Bedürfnis danach noch stärker war.
Immer wieder dachte ich daran, die Geschichte des Sommers 1975 aufzuschreiben und doch tat ich es nie. Eine seltsame Scheu hielt mich davon ab. Ich machte gelegentlich Notizen, wenn mir ein weiteres kleines Detail wieder ins Gedächtnis kam, aber ich schrieb nicht.
Ende Oktober und Anfang November 2009 wurde es mal wieder sehr drängend. Ich hatte mir bei Amazon eine alte Hit-Mix-CD aus dem Jahr 1986 bestellt und ließ sie im Auto laufen. Drauf war der Song der New Wave Gruppe „Big Country“ mit dem Titel „Look away“.
Wenn das Lied in voller Lautstärke lief, spielte ich im Kopf einen Videoclip dazu ab:
Ein Mann in meinem Alter (eigentlich ich selbst) schreibt diese Liebesgeschichte auf und postet sie im Internet. Die jüngere Schwester Melanies liest sie und schreibt ihm eine Email. Melanie ist damals kurz vor den Sommerferien bei einem Autounfall auf dem Schulweg ums Leben gekommen. Sie hat sich aber vor den Ferien total auf ein Wiedersehen mit ihrem Schwarm vom Jahr zuvor gefreut. Das hat sie ihrer Schwester unter dem Mantel der Verschwiegenheit anvertraut. In der Mail steht: „Melanie liebte Sie immer noch und freute sich ganz unbeschreiblich auf die Sommerferien in Beeden.“
Man sieht den Typen in einem britischen Sportwagen über die Landstraße fahren. Es ist Herbst und die Bäume bunt. Das Wetter ist trübe. Richtig deprimierend herbstlich. Während er fährt, hat er Rückerinnerungen an Melanie und jenen fernen Sommer. Zwischen den Rückblenden und dem Mann im Auto sieht man ihn am Computer die Story schreiben und online bringen. Dann erhält er die Email mit der Todesnachricht.
Man sieht dann den Mann an den inzwischen großen Bäumchen stehen. Sein Auto parkt daneben. Er sucht den Silbersee. Der ist weg. Er fährt weiter.
Wieder gibt es Rückblenden. Er und Melanie damals mit dreizehn Jahren.
Dann hält der Wagen vor einem Friedhof. Der Mann steht vor Melanies Grab. Letzte Rückblende, wie sie einander am Silbersee umarmen und sich ewige Treue schwören. Der Mann steigt ein und fährt fort. Überm Fahren wischt er sich verstohlen eine Träne aus dem Auge und im Hintergrund heult der Sänger von Big Country: „Look away, look away!“
Eine prima Geschichte. Herrlich dramatisch und ein echter Tränendrüsendrücker. So richtig was für Weihnachten.
Ich schrieb sie nicht, all meiner Begeisterung zum Trotz. Ich wusste auch, warum: Ich wollte die Erinnerung an jenen zauberischen Sommer nicht in einer halbwahren Geschichte verwursten. Wenn ich schrieb, musste ich mich streng an die Wahrheit halten.
Damit war das Thema erst mal wieder abgehakt. Nur wenn ich gelegentlich an den beiden ineinander verdrehten Bäumen vorbei radelte, dachte ich an jenen fernen Sommer.
Auf unsere Flaschenpost bekamen wir übrigens nie eine Antwort.
*
Inzwischen ist die Erinnerung an Melanie wie ein gutes Buch, das man im Regal hat. Es steht da und man kann es herausziehen und darin blättern. Es wartet geduldig. Man schlägt es auf und liest die alten Zeilen und betrachtet die alten Fotos mit nostalgischen Gefühlen. Alles ist von der Zeit verbrämt und mit einem leuchtenden Strahlenkranz umwunden. An die weniger guten Dinge von damals denkt man beim Betrachten nicht.
Gelegentlich blättere ich in diesem Buch. Mehr nicht.
Was wäre, wenn wir uns durch Zufall wieder fänden? Wenn wir uns heute träfen? Wozu?
Wir hätten uns kaum etwas zu sagen. Vielleicht würden wir einander in einem Cafe gegenübersitzen und feststellen, dass wir nach der langen Zeit nichts miteinander anfangen können? Womöglich würde sogar einer von uns nach einer Höflichkeitsstunde unter einem Vorwand abhauen. Nein. Das würde wohl nicht funktionieren.
Und damals?
Was wäre aus unserer „ewigen Liebe“ geworden, wenn wir uns ein Jahr später wieder getroffen hätten? Wie all diese frühen Liebeleien wäre es vielleicht auseinandergegangen. Mit der Lebenserfahrung von einundfünfzig Jahren weiß ich das. Ich wusste es auch schon mit sechzehn. Einer von zweien verliert die Lust. Die große Liebe geht. Sie verschwindet einfach. Manchmal bei beiden gleichzeitig, manchmal bleibt eine Partei leidend zurück. Liebeskummer. So ist das nun mal.
Natürlich hat es mich im Jahr 1976 sehr getroffen, als Melanie in den Ferien nicht nach Beeden kam. Es tat weh. Was blieb ist eine wundervolle Erinnerung. Es ist schön, diese Erinnerung zu haben. Sie ist wertvoll für mich. Selbst wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, werde ich mich gelegentlich an jenen fernen Sommer erinnern und in Gedanken mit Melanie am Silbersee zusammen sein. Ich werde mich an den Wind in ihrem Haar erinnern, an ihre Augen, an ihr Lachen und an unsere Freude, einander nahe zu sein. Sie war meine erste Liebe. Es tat weh, aber man sagt: Wenn es wehtut, dann war es gut.
Dieses himmelhochjauchzende Glücksgefühl – nie erlebte ich es stärker, als damals, so scheint es mir heute. Es begann gleich am ersten Tag und es wurde mit jedem Tag stärker, so unglaublich das auch klingen mag.
Das alte Buch mit den Erinnerungen ist seltsam. Auf manchen Seiten sind Fotos, die gestochen scharf daher kommen und man kann alle geschriebenen Zeilen gut lesen. Andere Seiten sind zerschlissen, die Fotos total unscharf. Es gibt ein Foto, auf dem trägt sie die gleichen Adidas-Turnhosen wie ich. Meine sind blau und ihre wechseln komischerweise immer die Farbe. Mal ist Melanies Turnhose rot und sie trägt ein grünes T-Shirt, dann ist die Turnhose grün und das T-Shirt ist rot. An die Farbe meines eigenen T-Shirts kann ich mich nicht erinnern. Es hat auf dem Foto keine Farbe. Aber an die Sitze im Schienenbus erinnere ich mich haargenau. Sie waren grau.
Ich denke nicht oft an Melanie. Nur ganz selten. Aber ich habe dieses Buch im Regal meiner Erinnerungen stehen und da wird es auf immer bleiben, so wie man ein altes Fotoalbum von früher aufbewahrt und alle paar Jahre mal anschaut.
Der Traum, den ich mit Mitte Zwanzig hatte, der Traum in dem sie so schrecklich weinte: Ich hoffe, es ist nicht so gewesen. Das hoffe ich wirklich.
Heute sieht der Videoclip in meinem Kopf ganz anders aus. Man sieht den Typen in seiner Werkstatt ein superschönes Segelschiffchen bauen. Er schenkt es den Kindern, die bei seinem Haus leben und sie lassen es auf einem kleinen Teich bei den Häusern draußen vor dem Dorf schwimmen. Er sieht zu und schaut wehmütig. Dann steigt er in einen offenen Morgan Roadster.
Er lässt den Motor an und fährt los. „Look away“ von Big Country startet als Hintergrundmusik.
Es ist kein ekelhaft trübes Herbstwetter. Es ist Sommer. Der Mann fährt über die Landstraße und dann kommt er am Ortsschild von Beeden vorbei. Unterwegs gibt es Rückblenden in Schwarzweiß. Man sieht ihn und Melanie am Silbersee. Sie sind jung wie damals. Man sieht sie beim Radfahren und beim Fahren im Schienenbus oder sitzend auf der Bank im Wartehäuschen. Man sieht, wie sie die beiden kleinen Bäumchen ineinander verdrehen und sich ewige Liebe schwören.
Bei der Bahn parkt der Mann sein Auto bei der Ruine des Wartehäuschens und steigt aus. Er schaut sich das Ding an und wirkt gerührt. Man sieht ihm an, dass er an früher denkt. Er spaziert die Straße neben den Schienen hinunter und er entdeckt die ineinander verdrehten Bäume, die inzwischen groß und stark geworden sind.
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Immer wieder gibt es Rückblenden in Schwarzweiß von früher.
Er läuft zu dem Haus mit der niedrigen Mauer und sucht den Silbersee. Er sieht, dass der Silbersee weg ist. Schnitt auf sein trauriges Gesicht und dann ein Bild vom Silbersee früher – in Schwarzweiß.
Der Mann kehrt um. Die Szene ist jetzt in Schwarzweiß. Er wirkt etwas traurig. Doch kaum ist er bei den Schienen scheint er einen Lokomotivpfiff zu hören. Aus Richtung Homburg kommt ein Schienenbus mit Beiwagen auf ihn zugefahren und das schwarzweiße Bild wird allmählich bunt. Der Schienenbus fährt vorbei. Der Mann dreht um und geht zurück. Nun ist der Silbersee da. Alles sieht aus wie früher. Er läuft den abschüssigen Weg in die Senke mit dem Weiher hinunter und dabei verwandelt er sich in einen dreizehnjährigen Jungen, der ein orangefarbenes Klapprad schiebt.
Drunten liegt Melanies altes grün-silbernes Fahrrad. Er stellt sein Rad daneben und sieht auf dem Wasser sein altes Segelschiffchen auf sich zu fahren. Melanie steht am Ufer. Sie schauen sich an. Dann rennen sie aufeinander zu. Sie fallen sich in die Arme, sie schauen sich in die Augen, sie lachen sich an.
„Look away, look away“, singt der Sänger von Big Country in voller Lautstärke.
Dann kehrt der Mann zu seinem Auto zurück. Eine dunkelrote V100 zieht zwei Silberlinge von Süden kommend nach Homburg an ihm vorbei.
Er schaut noch einmal die ineinander verdrehten Bäumchen an und fährt dann los. Am Ortsausgang von Beeden biegt er in die alte Kaiserstraße nach St. Ingbert ein, gibt Gas und entschwindet in der Ferne, während Big Country noch einmal ihr „Look away, look away“ singen.
Ja. Das nenne ich einen guten Videoclip. Wirklich. Genau so soll es sein. Und genau so wird es den Rest meines Lebens im Buch meiner Erinnerung geschrieben stehen.
Ich werde nie herausfinden, warum Melanie ein Jahr später nicht kam. Es kann tausend Gründe geben: Die Tante war krank. Die Tante war in Kur. Die Tante war in Urlaub gefahren. Melanie war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Melanie hatte keine Lust auf Beeden und hatte es geschafft, die alljährliche Verbannung zur Tante zu umgehen. Melanies Mutter war krank geworden. Melanie war krank. Melanie war mit ihrer Familie in Urlaub gefahren. Es hatte Familienkrach gegeben und deswegen durfte Melanie nicht zur Tante nach Beeden. Melanies Familie war weit weggezogen. Die Tante war weggezogen.
Es kann tausend Gründe haben.
Letzten Endes ist es egal, denn es ändert nichts.
Sie kam nicht mehr nach Beeden. Anfangs tat das weh. Später war ich dankbar für die schöne Erinnerung. Unsere Liebe hat sich nicht verflüchtigt. Sie ging nicht banal zu Ende. Letzten Endes blieb sie bestehen, so wie wir es uns geschworen haben. Sie wurde von der Zeit konserviert. Sie ist ein Edelstein in meiner Erinnerung geworden, ein echtes Kleinod.
Und der Beweis dieser Liebe besteht noch immer.
Die beiden ineinander verdrehten Bäumchen sind zu großen, starken Bäumen geworden. Sie stehen neben der alten Bahnstrecke bei Beeden als sichtbarer Beweis, dass sich zwei blutjunge Menschen einmal sehr, sehr lieb hatten.
*
Gelegentlich in Erinnerungen zu schwelgen, das bedeutet nicht, dass ich ein rückwärts gerichtetes Leben führe; ganz im Gegenteil. Ich bin einer, der nach vorne schaut.
Aber ich denke, dass gerade die Fähigkeit Erinnerungen zu haben, einen Menschen ausmacht. Dass Erinnerungen uns erst zu wirklichen Menschen macht.
An unsere früheste Kindheit können wir uns nicht erinnern. Wir lebten nicht. Wir wurden gelebt. Wir fingen erst an zu leben, als unsere Erinnerungen einsetzten, mit zwei bis drei Jahren. Als wir anfingen uns zu erinnern, begannen wir zu leben.
Ich machte nach der Realschule im Eisenwerk in Homburg eine Elektrikerlehre. Jeden Tag fuhr ich mit dem Zug von Bexbach nach Homburg. Eines Tages sah ich – was für die damalige Zeit noch extrem selten war – ein kleines Graffiti an der Stirnwand meines Abteils.
Jemand hatte mit Kugelschreiber in sauberer, rundlicher Mädchenschrift einen Spruch auf die Wand gemalt:
„Die Tage des Lebens fließen dahin
wie die flüchtigen Wellen der Meere,
und es bliebe dem Menschen gar kein Gewinn,
wenn nicht die Erinnerung wäre.“
Dem habe ich nichts hinzuzufügen
ENDE
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