Mars First - Mit dem One Way Ticket zum Mars(41) |
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Arne und Antje wollten sich gerade an den Tisch in ihrem Habitat setzen, als sie Ethan McDuff draußen vorm Eingang mit dem Pickel in der Hand vorbeilaufen sahen. Der Amerikaner trug seinen Marsanzug.
„Was ist denn mit dem los?“, fragte Antje. „Ist der unterwegs zur Schleuse, um draußen seine Kuppel abzureißen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ethan benimmt sich in letzter Zeit seltsam. Seit Laura ihm den Laufpass gegeben hat, ist er unausstehlich.“
Das war er vorher auch schon, dachte Arne. Laut sagte er es nicht. Stattdessen meinte er lakonisch: „Er wird sich draußen austoben wollen. Mit dem Pickel mal so richtig reinhauen.“
Soll er doch, dachte er, aber lange kann er nicht bleiben. Hätte er halt seinen Anzug anhängen sollen. Ich räume ihm nicht mehr hinterher. Ich habe echt keinen Bock mehr.
Ethan pflügte durch die Reihe der Dragons wie eine Lokomotive. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er war auf hundertachtzig.
Dir werde ich helfen!, dachte er. Ich mache ein Loch ins Ende deines Habitats. Dann hat es sich mit Einliegerwohnungen in anderen Living-Units!
Er bog in Habitat 3 ein und lief mit schnellen Schritten zum hinteren Ende. Er sah Laura nicht. Sie war außer Sichtweite. Wahrscheinlich hockte sie vor ihren Regalen mit Steinproben und Sandeimerchen und fummelte irgendein Geologenwerkzeug aus einer Schublade.
Ethan stürmte blindlings vorwärts bis zum Ende des Habitats. Dort befand sich eine inaktive Schleuse. Hier wollten sie die neue Kuppel anschließen, sobald sie fertig war. Wenn sie denn je fertig werden würde. Die äußere Hülle von Kuppel 2 war nicht mal mannshoch, weil keiner bereit war, ihm zu helfen. Sie drückten sich, wo sie konnten. Wahrscheinlich hatte Laura sie angestiftet, Ethans Projekt zu boykottieren.
Im Vorbeirennen sah er Lauras provisorische Wohnecke aus dem Augenwinkel, ihr Bett, die Regale, die Schränkchen, den Rechner mit dem großen Flatscreen. Den Arbeitstisch ganz vorne bei der Zwischenschleuse zum mittleren Teil der Living-Unit sah er nicht, weil er zu schnell daran vorbei rannte.
„Ich werde dir helfen!“, grollte er. „Ich werde ein hübsches Loch in deine Studentenbude schlagen. Dann musst du zu mir zurückkommen.“
In den Helmlautsprechern hörte er Laura schreien: „Ethan! Nein! Um Himmels willen! Tu das nicht!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Oh Gott, Ethan! Bitte nicht!“
Er hörte die Angst aus ihren Worten heraus. Schön, sollte sie Angst haben. Das war gut.
Ethan kam zur Rückwand. Ohne zu zögern riss er den Pickel hoch und begann auf die Wand direkt neben der Schleuse einzuschlagen.
Er musste sich mächtig anstrengen. Das Material der Living-Unit leistete Widerstand. Das Zeug war zäher, als er gedacht hatte. Wieder und wieder holte er aus. Im Hintergrund flehte ihn Laura pausenlos an, aufzuhören. Sie schrie wie am Spieß.
Beim fünften Schlag war es soweit. Ethan spürte, wie der Pickel die Außenhaut durchdrang. Es knackte, dann ertönte ein lautes Jaulen, als die Atemluft nach draußen entwich. In Sekundenschnelle bildete sich an der Stelle, die er mit dem Pickel bearbeitet hatte, ein Riss. Das klang, als würde ein Riese ein Zirkuszelt einreißen. Der Pickel wurde ihm aus den Händen gerissen. Ungläubig sah er zu, wie er durch den Riss nach draußen geschleudert wurde.
Eine Riesenfaust packte Ethan, wirbelte ihn heraum und schleuderte ihn gegen die Wand. Er prallte mit solcher Wucht gegen die Außenhaut, dass es ihm alle Luft aus der Lunge presste. Die ganze Zeit über schrie Laura. Ihre Stimme steigerte sich zu einem wilden Diskant absoluter Todesangst.
Ethan schüttelte den Kopf, um wieder klar sehen zu können. Er hing mit dem Rücken an der Wand und kam nicht los. Die austretende Luft saugte ihn auf dem Riss in der Außenhaut fest, während mehr und mehr der Atmosphäre der Living-Unit nach draußen entwich. Er spürte die Kanten des Risses in seinem Rücken vibrieren, als die Luft entwich. Es klang, als würde ein Riese einen gewaltigen Furz lassen.
Über dem Heulen der entweichenden Luft ertönte eine laute Warnstimme aus dem Habitat-Computer: „Achtung! Leck in Endsektion von Nummer 3! Sauerstofflevel kritisch! Schleusen aktiviert! Habitat 3 wird abgeschottet!“
Ethans Blick klärte sich. Mit dem Rücken an der Wand hängend sah er, wie sich die Schleuse gedankenschnell schloss. „Sauerstofflevel kritisch!“, blökte die Warnstimme. Er hörte sie überdeutlich in seinen Helmlautsprechern. „Achtung! Sauerstofflevel kritisch! Lebensgefahr!“ Darüber hörte er Lauras schrillen Schrei.
Als der Alarm losging, fuhren Arne und Antje auf.
„Was ist da los?“, rief Antje. Die Computerstimme tönte laut und deutlich. Sie verkündete einen Schaden in Habitat 3. „Sauerstofflevel kritisch! Lebensgefahr!“
Arne wusste sofort, was los war: „Ethan! Mit dem Pickel! Oh nein! Dieser Irre! Er dreht durch!“
Sie stürmten zum Habitat hinaus und rannten nach hinten zu Nummer 3. Sie fanden sämtliche Schleusen der schlauchförmigen Living-Unit geschlossen. Auch der Eingang war dicht. Auf dem Monitor neben der Eingangsschleuse sahen sie, was sich im hinteren Teil des Habitats abspielte.
„Oh Gott!“, hauchte Antje. „Oh nein! Ethan!“
Ethan hing noch immer an der Wand fest, angesaugt von der in rasender Schnelle entweichenden Luft des Habitats. Ihm traten die Augen aus dem Kopf. Er sah vorne direkt bei der geschlossenen Schleuse Lauras Arbeitstisch. Dort lag der ziegelsteingroße rote Brocken, den Laura von draußen mitgebracht hatte. Lauras Helm lag daneben und ihr Anzug war achtlos über eine Stuhllehne geworfen.
Ethans Herz zog sich krampfhaft zusammen. Der Schock fuhr ihm bis ins Mark. „Nein!“, rief er. „Oh nein!“ Laura trug ihren Marsanzug nicht mehr. Sie hatte ihn ausgezogen, wahrscheinlich um ihren Fund zu untersuchen.
Sie stand direkt bei der geschlossenen Schleuse. Sie starrte ihn an. Nackte Todesangst stand in ihren Augen.
„Laura!“, schrie er. „Oh Laura! Jesus Christus!“
Sie starb vor seinen Augen. Auch wenn sein Körper den Riss im Habitat teilweise abdeckte, entwich die Luft rasend schnell. Dann kam der Mars ins Innere.
Ethan hatte auf der Erde gelernt, was einem widerfuhr, wenn man der Marsatmosphäre schutzlos ausgeliefert war. Die Kälte war nicht das Schlimmste, die konnte man eine Zeit lang aushalten. Man konnte die Kohlendioxidluft nicht atmen, aber auch das tötete einen nicht sofort. Man hätte theoretisch die Luft anhalten können; nicht aber in der Praxis. Es war der fehlende Atmosphärendruck, der einen umbrachte. Der Luftdruck auf dem Mars entsprach dem Luftdruck auf der Erde in fünfunddreißig Kilometer Höhe. Er betrug nur 0,63% des irdischen Luftdrucks. Daher war die Hauptaufgabe der Marsanzüge die Aufrechterhaltung irdischen Drucks, um den Körper der Menschen zu schützen.
Die Stimme des Ausbilders: „Ohne den irdischen Luftdruck spielt der menschliche Körper in Sekundenschnelle verrückt. Der Druckabfall presst sofort alle Luft aus der Lunge. Auf der Erde kocht Wasser in Meereshöhe bei hundert Grad Celsius. Bereits wenige Höhenmeter machen einen Unterschied. Steigt man auf einen Berg, fängt Wasser des niedrigeren Luftdrucks wegen bereits viel früher an zu sieden. Auf dem Mars ist der Druck so niedrig, dass Wasser sofort zu sieden beginnt. Und der Mensch besteht zu achtzig Prozent aus Wasser, Herrschaften. Kommen Sie also nicht auf die Idee, im Freien ihren Helm abzunehmen. Sie würden sofort bei lebendigem Leibe gekocht; ein sehr schmerzhaftes Erlebnis, das mit dem Tod endet. Nichts kann Sie retten. Ihr Körpergewebe wird zerplatzen, Muskeln bersten, die Lunge wird zerrissen, die Augen kochen und explodieren. Es wird schnell gehen, aber für den Betroffenen wird es eine kleine Ewigkeit dauern.“
Ethan sah, wie es passierte.
Laura stieß einen seltsam atemlosen Schrei aus, als ihre Lunge den Überdruck entweichen ließ. Blut flockte von ihren Lippen, die sich aufbliesen wie die Seiten eines Schlauchbootes. Blanke Todesangst und Schmerz standen in ihren Augen.
„Laura! Oh Gott, Laura!“ brüllte Ethan. „Das wollte ich nicht! Laura!“ Noch immer war er an dem Riss in der Wand festgesaugt. Noch immer strömte Luft nach draußen. Aber der Sog wurde rasch schwächer. „Laura, es tut mir leid!“
Sie öffnete den Mund zu einem stummen Schrei, die Arme vorgestreckt und die Hände zu Klauen verkrampft. Zuckend fiel sie auf die Knie. Ihre Augen traten aus den Höhlen. Es sah aus, als ob sie aufgeblasen würden. Dann platzten sie, während eine Wolke aus Blut aus ihrem aufgerissenen Mund flog. Noch immer zappelte und zuckte sie. Es dauerte Sekunden, doch jede Sekunde kam Ethan vor wie eine Ewigkeit. Sie litt, das wusste er. Sie litt ungeheuerliche Schmerzen. Und sie hatte Angst. Schreckliche Angst. Der Tod ließ sich Zeit.
Voller Entsetzen musste Ethan zusehen, wie Lauras Körper sich aufblähte und dann aufriss wie eine Bratwurst in der Pfanne.
„Sauerstofflevel kritisch!“, blökte die Compterstimme aus allen Lautsprechern. Im Inneren des Habitats war sie kaum mehr hörbar. Die Luft war zu dünn. Aber in Ethans Helmlautsprechern plärrte sie unablässig weiter. „Sauerstofflevel kritisch! Lebensgefahr!“
Was von Laura Sunderland übriggeblieben war, sank vor der geschlossenen Schleuse in sich zusammen. Blutiger Dampf stieg von dem jämmerlichen menschlichen Überrest auf. Endlich hörten die Bewegungen des Körpers auf. Laura war tot.
„Laura!“, schrie Ethan. „Oh mein Gott! Laura, das wollte ich nicht! Ich wollte das nicht!“ Mit einem Rülpsen entwich der letzte Rest der Luft des Habitats nach draußen. Der Sog, der ihn an die Wand genagelt hatte, hörte schlagartig auf. Ethan fiel nach vorne. Hastig richtete er sich auf. Voller Grauen sah er den Körper von Laura bei der Schleuse liegen. Er hatte kaum noch etwas menschliches an sich. Laura war bei lebendigem Leibe gekocht worden und aufgeplatzt wie eine Wiener Wurst im heißen Wasserbad. Ihr Leib war aufgerissen. Das Blut verdampfte rasend schnell.
Ethan fühlte einen solchen Schmerz in seine Inneren, dass er hätte schreien können. Laura! Sie war tot. Das durfte nicht sein! Es durfte einfach nicht sein!
„Aber, ich liebe dich doch!“, stammelte er. „Laura! Oh Laura! Das wollte ich nicht! Bitte vergib mir!“ Er wankte auf die Schleuse zu. Er hatte butterweiche Knie. Sein Kopf dröhnte. Das Atmen fiel ihm schwer.
„Sauerstofflevel kritisch! Lebensgefahr!“, plärrte die Stimme in seinen Helmlautsprechern unablässig.
Ethan wünschte, die Stimme würde endlich schweigen. Er wusste, dass aller Sauerstoff aus der hinteren Kammer des Habitats entwichen war. Wozu das Geplärr?
„Sauerstofflevel kritisch! Lebensgefahr!“, wiederholte die seelenlose Computerstimme.
Ethan fiel das Atmen immer schwerer. Er bekam kaum noch Luft. Ein Blinken im Augenwinkel ließ ihn nach unten schauen. Sein Blick fiel auf das Anzug-Display auf seinem linken Unterarm. Seine Augen weiteten sich. Er spürte, wie er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Ungläubig starrte er den kleinen LCD-Bildschirm an.
Die Anzeigen für Batteriepower und Atemluft standen auf Null. Seine Vorräte war aufgebraucht. Er hatte keine Atemluft mehr in den Tanks und die Batterien waren fast vollständig entleert. Die Heizung hatte kaum noch Power. Er spürte die Kälte in den Anzug kriechen.
„Sauerstofflevel kritisch! Lebensgefahr!“, plärrte die Computerstimme.
Ethan sah sich panisch um.
Ich muss weg! Ich muss hier raus! Ich muss …!
Plötzlich schien die Schleuse weit fort zu sein. Die zehn Meter kamen ihm wie zehn Kilometer vor. Kaltes Entsetzen packte Ethan. Er musste zur Schleuse. Sofort.
Vorm Eingang erfassten Arne und Antje die Situation mit einem Blick.
„Sein Anzug ist leer!“, schrie Antje. Sie tippte mit dem Zeigefinger hektisch auf den Monitor, der Ethans Anzugdaten anzeigte. „Mein Gott, er hat keine Luft mehr in den Tanks!“
Arne betätigte die Sprechtaste. „Ethan! Zur Schleuse! Schnell! Wir entlüften Kammer 2 und öffnen sie. Sobald du drin bist, lassen wir von hier aus frische Luft rein. Mach hin! Beweg dich!“ Er ließ die Finger über die Tastatur an der Wand eilen. Hinter der Schleuse öffnete sich in der Decke ein Notfallventil und ließ die gesamte Luft der mittleren Kammer des Habitats entweichen. Innerhalb von Sekunden war die Kammer luftleer. Arne schloss das Ventil und gab der Schleuse den Befehl, sich zu öffnen. Die Tür glitt zur Seite.
„Ethan!“, brüllte er ins Mikrofon am Wandpaneel. „Komm schon! Beeil dich! Du hast keine Luft mehr in den Tanks! Schnell in die mittlere Kammer! Sobald du drin bist, schließen wir die Schleuse und pumpen frische Luft ein! Los! Mach schon!“
Sie sahen Ethan auf die geöffnete Schleuse zu wanken. Der Mann taumelte wie ein Betrunkener.
Ethan nuschelte etwas. Sie verstanden es kaum. „Luft ...“, tönte es schwächlich aus den Lautsprechern. „Ich … keine Luft! Kann nicht atmen! Ich … Luft!“
„Beeil dich, Ethan!“, rief Antje. „Schnell! Geh weiter! Es ist nicht mehr weit! Nur noch zehn oder zwölf Schritte, Ethan! Lauf!“
„... bekomme keine Luft!“, röchelte es in den Lautsprechern. Ethan hatte das goldbedampfte Schutzvisier hochgefahren. Sie sahen sein Gesicht hinter der durchsichtigen Helmverglasung. Nackte Panik stand darin. „Ich bekomme keine Luft!“, wimmerte er. „Ich kann nicht atmen!“
Ethan fasste nach dem Unterteil des Helms. Seine Hände fuhren nervös hin und her, als er die Verriegelung des Helms suchte.
„Nein!“, brüllte Arne. „Ethan, tu das nicht! Nicht den Helm abnehmen! Lauf! Lauf zu! Es sind nur noch zehn Schritte! Ethan, lauf!“
„Luft!“, winselte es aus den Lautsprechern. „Luft!“
Voller Entsetzen mussten sie mitansehen, wie Ethan McDuff den Verriegelungsmechanismus fasste und den Sperrnippel umlegte und zurückschob.
„Ethan, nein!“, schrie Antje. „Nein, Ethan! Nein!“
Auf dem Bildschirm sahen sie, wie der Amerikaner sich den Helm von den Schultern riss.
Arne hämmerte geistesgegenwärtig auf den Knopf, der die Kameras ausschaltete. Das Bild wurde schwarz.
Doch er hatte den Ton nicht abgeschaltet. Sie hörten den bellenden Schrei, als die Luft mit Gewalt aus Ethans Lunge gepresst wurde. Sie hörten das entsetzliche Röcheln, das der Mann von sich gab, als seine Lungenflügel kollabierten und die Flüssigkeiten in seinem Körper in Sekundenschnelle zu sieden begannen.
„Mach es aus!“, schluchzte Antje. Sie trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. „Mach es aus! Mach es aus! Mach es aus!“
Arne verfehlte in der Eile den richtigen Knopf. Er traf den Knopf, der die Kameras aktivierte und musste für zwei Sekunden mitansehen, wie Ethan McDuffs Gesicht sich aufblies und seine Augen platzten. Dann drückte er zwei Knöpfe gleichzeitig. Das Bild verschwand und der Ton starb ab. In totaler Stimme standen er und Antje da. Nur das leise Gurgeln und Zischen der Lebenserhaltungssysteme war im Hintergrund zu hören.
Antje klammerte sich weinend an ihn. Er hielt sie fest.
„Oh Gott!“, murmelte er. „Oh mein Gott!“
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