Wenn der Rote Hahn kräht(17) |
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Am frühen Nachmittag, einen Tag nach der Abreise von Pascal Hennes und Rebekka Dahl, ging Agnes Friedmann ins Herrenhaus. Am Morgen hatte sie nicht hingehen können, weil sie einen Zahnarzttermin hatte. Pascal hatte sie gebeten, alle zwei Tage im Herrenhaus nach dem Rechten zu sehen und, wenn nötig, die Pflanzen zu gießen, die er angeschafft hatte, um den düsteren, alten Kasten etwas wohnlicher zu gestalten. Agnes hatte ihre Tochter Johanna dabei, um ihr zu zeigen, wo überall Pflanzen standen, um sie zu gießen, falls sie selbst verhindert sein würde.
Sie hatte erwartet, ihre Tochter würde sich beschweren, aber Johanna war ohne Murren mitgekommen. Sie wollte sich unbedingt die alten Bilder im Herrenhaus anschauen. Seit Pascal ihr das erlaubt hatte, hatte sie ihre Mutter gelöchert, doch mal nachmittags im Herrenhaus zu putzen, damit sie mitkommen könnte, um sich die Bilder anzusehen.
Agnes verstand es nicht so recht. Man konnte sich die Bilder ja mal in Ruhe ansehen, aber mehrmals hintereinander, immer wieder?
Nachdem ihre Mutter ihr alle Pflanzen im Herrenhaus gezeigt hatte und welche Türen und Fenster man kontrollieren musste, um sicherzustellen, dass niemand eingebrochen war, stromerte Johanna allein durchs Haus, das heißt, sie lief zu dem Zimmer, wo all die alten Bilder an der Wand hingen, um sie sich anzuschauen. Wie immer blieb sie am längsten vor dem Porträt der zehnjährigen Magdalena Hennes aus dem Jahr 1631 stehen das Bild zog sie magisch an. Sie las die Inschrift unten im Rahmen des Bildes: Magdalena Hennes, 1631, stand da in den Rahmen geschnitzt. Johanna schaute das Mädchen an, das seit fast vierhundert Jahren tot war. Auf dem Bild wirkte Johanna so lebendig wie auf einem Foto. Ihre Augen blickten Johanna ruhig aus dem Bild heraus an. Wie immer dachte Johanna, dass Magdalena irgendwie traurig wirkte. Das Mädchen sah verloren aus, als ob es sich vor etwas fürchtete, dass auf sie zukam.
„Arme Magdalena“, sagte Johanna leise. Sie hob die Hand, wie um dem Mädchen auf dem Bild über die Wange zu streicheln. Da hörte sie ein leises Geräusch hinter sich. Erschrocken fuhr sie herum.
Da war nichts. Sie war allein in dem großen Raum. Eine Minute stand Johanna ganz still da. Sie rührte sich nicht und bemühte sich, möglichst leise zu atmen. Nichts. Sie hörte nichts mehr.
Ich habe mir bloß was eingebildet, dachte sie. Alte Häuser machen manchmal komische Geräusche. Irgendein alter Balken hat geknackt oder eine Treppenstufe. Die Treppen im Haus waren aus Holz genau wie die Zwischendecken und Holz gab Geräusche von sich, wenn sich das Material bei Wärme ausdehnte, oder sich bei Kälte zusammenzog.
Da! Wieder das Geräusch! Johannas Augen huschten durch den Raum zu dem hohen Sprossenfenster. Wieder ein leises Ächzen!
Johanna grinste. Da habe ich es! Das Fenster hat geknackt. Sie atmete auf. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, jemand wäre mit ihr zusammen im Zimmer.
Ihr Blick fiel auf den Tisch in der Mitte des Raums. Vier Stühle standen um ihn herum. Auf der Tischplatte war ein Damespiel aufgebaut, das schwarz-weiß karierte Brett aufgeklappt die weißen und schwarzen Spielsteine aufgesetzt für eine neue Partie. Johanna trat näher. Dame. Sie spielte gerne Dame mit ihrem Vater. Der hatte ihr jede Menge Tricks beigebracht. Sie betrachtete das Spielbrett mit schief gelegtem Kopf.
Welche Farbe soll ich nehmen? Na, die Farbe, die ich immer nehme, wenn ich es mir aussuchen darf: Schwarz. Sie griff nach einem Spielstein und machte einen Zug. „Eröffnet“, sagte sie leise. „Schwarz greift an.“
„Ach, da bist du ja!“
Johanna machte vor Schreck einen Luftsprung. Ihre Mutter stand im Türrahmen. „Mutti!“ Johanna griff sich ans Herz. „Du hast mich erschreckt! Ich wäre vor Schreck beinahe aus meinen Schuhen gesprungen.“
Ihre Mutter sah nach unten. Ein spöttisches Lächeln flog über ihr Gesicht. „Wie gut, dass deine Schuhe fest zugebunden sind. Sie sind noch da, wo sie hingehören – an deinen Füßen. Komm jetzt! Wir gehen. Ich muss zu Hause im Garten noch gießen. Du kannst mir helfen, oder willst du zu deinen Freundinnen.“
„Nö, ich komme mit dir. Luise ist mit ihrer Mutter Klamotten einkaufen und bei Sophie ist ihre doofe Cousine heute Nachmittag zu Besuch. Auf die kann ich verzichten. Da ist mir ruhige Gartenarbeit lieber. Können wir heute Abend nicht mal grillen?“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf: „Dein Vater ist bei einem Arbeitskollegen und hilft ihm, die Dachrinne zu säubern. Der Mann hat letztens auch bei uns geholfen.“
Sie stiegen ins Auto und fuhren los. „Pascal Hennes grillt gerne“, erzählte Johanna. „Lukas hat es mir erzählt. Pascal und Rebekka waren bei Zieglers zum Grillen. Pascal will sich revanchieren. Er muss nur noch einen Grill besorgen. Armin und Ellen hatten nämlich keinen. Die waren viel zu geizig für sowas. Sag, könnten wir Herrn Hennes nicht mal zum Grillen einladen? Dann werden wir von ihm und Rebekka auch eingeladen und vielleicht von den Zieglers. Lukas sagt, dass sie bei schönem Wetter auf der Terrasse grillen.“
Ihre Mutter sah zu ihr herüber
„Was guckst du so?“, fragte Johanna.
„Du bist ja plötzlich ganz wild darauf, dem Herrenhaus einen Besuch abzustatten.“ Ihre Mutter grinste. „Hat das vielleicht damit zu tun, dass der Lukas dort nebenan wohnt?“
„Na und?“, gab Johanna zurück. „Ich vertrage mich halt gut mit Lukas. Er hat mir Judogriffe beigebracht.“
„Ach sooo“, meinte ihre Mutter. Sie grinste noch breiter. „Das ist natürlich was anderes.“
„Brauchst gar nicht so zu gucken!“, fuhr Johanna auf. „Was ist denn nun mit der Grilleinladung?“
„Lass mal, Fräulein Tochter“, sagte ihre Mutter. „Die Leute aus den Familien sind schon genug hinter dem armen Pascal her. Die überschütten ihn mit Einladungen. Ich glaube, deswegen ist er nach England geflüchtet. Um mal seine Ruhe zu haben.“
„Und um den ganzen Tag mit Rebekka zu knutschen“, sagte Johanna. „Wenn er es hier im Dorf macht, gaffen sofort alle Leute. Aber einladen könnten wir doch trotzdem mal. Die Zieglers auch. Das wäre doch nett.“
„Warten wir es ab“, sagt ihre Mutter. „Lass die zwei Turteltäubchen erst mal aus England zurückkehren. Die bleiben zwei Wochen lang weg.“
*
„Willkommen in Liverpool“, rief Pascal aus, „der Heimat der Beatles und dem besten Narrowboatbuilder: Aintree Boats.“
Rebekka lehnte sich an ihn: „Hast du da noch mal angerufen?“
Pascal schüttelte den Kopf. „Mache ich gleich nachdem wir eine gescheite Anlegestelle in der Nähe gefunden haben. Dann besuchen wir die und schauen uns alles in Ruhe an.“ Er drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss: „Es steht fest, dass wir unser eigenes Boot bekommen werden. Wir bestellen eins knackneu von der Grundplatte aufwärts und es wird genauso eingerichtet, wie wir es wollen.“
*
Sie waren wieder im Herrenhaus. Johanna hatte ihre Mutter überzeugt, nachmittags hinzugehen, weil sie morgens Schule hatte. „Ich muss doch lernen, was ich da alles machen muss“, hatte sie gesagt. „Falls du mal verhindert bist.“
„So, so“, hatte ihre Mutter nur gesagt.
Als sie beim Herrenhaus vorfuhren, zeigte sie auf das Haus der Zieglers nahebei: „Zieglers Auto steht nicht vor dem Haus.“ Sie wandte sich an ihr holdes Töchterlein: „Pech gehabt. Lukas ist anscheinend mit seinen Eltern weggefahren.“
„Na und?“, rief Johanna. Sie setzte ein trotziges Gesicht auf. „Außerdem steht das Auto ja manchmal in der Garage.“
„Aber nicht bei schönem Wetter“, hielt ihre Mutter dagegen. Beim Aussteigen grinste sie. „Vielleicht kommen Zieglers ja zurück, während wir beim Saubermachen sind. Und jetzt putzen wir das Herrenhaus von oben bis unten.“
Dies taten sie auch. Nur den Keller ließen sie außen vor. Agnes Friedmann mochte den Keller des Herrenhauses nicht; Johanna erst recht nicht.
Nachdem Johanna mit ihrem Teil der Arbeit fertig war, ging sie ins Zimmer mit den Bildern. Schon beim Betreten des Raums fiel ihr die Veränderung auf. „Das gibt‘s doch nicht!“, flüsterte sie. Ihre Augen weiteten sich und ihr Herz schlug einen Takt schneller. „Das … das kann doch nicht sein!“
Mit ganz kleinen Schritten näherte sie sich dem Tisch in der Mitte des Raumes. Sie trat so leise wie möglich auf. Dann stand sie vor dem Tisch. „Irre!“, wisperte sie. Sie musste schlucken. „Das ist voll irre!“
Das Damebrett lag noch genauso auf dem Tisch, wie zwei Tage zuvor. Mit einem Unterschied: Einer der weißen Steine war bewegt worden!
„Das kann nicht sein!“, flüsterte Johanna. „Die Hausbesitzer sind auf Reisen und außer Mutti hat niemand einen Schlüssel zum Herrenhaus. Wer zum Kuckuck hat den Damestein bewegt?“
Es konnte mehrere Gründe geben. War jemand ins Haus eingebrochen? Nein, sie und ihre Mutter hatten gleich nachdem sie ins Haus gekommen waren sämtliche Fenster und die Hintertür kontrolliert. War eine Maus über den Tisch gelaufen und hatte den Damestein unabsichtlich bewegt? Johanna sah sich den Tisch an. Die Tischbeine waren sehr glatt und sie befanden sich unter der Tischplatte zwanzig Zentimeter vom Tischrand entfernt. Da konnte keine Maus auf den Tisch gelangen. Außerdem gab es im Herrenhaus keine Mäuse. Hatte vielleicht noch jemand anderes einen Schlüssel zum Herrenhaus? Jemand, der diesen Schlüssel von Armin und Ellen erhalten hatte, bevor sie bei dem Unfall im Wald ums Leben kamen? Sehr unwahrscheinlich. Der ehemalige Bürgermeister von Silberberg war keiner, der anderen Leuten den Schlüssel zu seinem Haus überließ. Ihre Mutter hatte auch keinen Schlüssel gehabt. Am Putztag war Ellen Hennes stets zu Hause gewesen und ließ Agnes Friedmann herein, wenn sie klingelte. Johannas Mutter hatte erst einen Schlüssel bekommen, nachdem Pascal Hennes sie gebeten hatte, nach dem Haus zu schauen, solange er mit Rebekka Dahl Urlaub machte.
Blieb nur noch eine Lösung. „Ein Geist!“ Johanna überlief es eiskalt. Im Herrenhaus ging ein Gespenst um!
„Ein Kerkerkind!“, flüsterte sie. „Die alten Geschichten sind also wahr! Drunten im Keller gibt es ein geheimes Verlies und dort ist ein Kind eingesperrt. Es ist dort gestorben und nun geht sein Geist im Herrenhaus um. Du lieber Gott!“ Johannas ganzer Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Sie starrte auf das Damebrett. Ein Geist hatte den weißen Spielstein bewegt. Ein echter Geist!
Geister gibt es keine, hieß es immer. Das ist nur Einbildung. Aber hier hatte sie den Beweis: Der weiße Spielstein hatte sich bewegt. Er war von Geisterhand bewegt worden.
Es gibt Geister, dachte Johanna. Zumindest in diesem alten Kasten. Deswegen habe ich mich immer so komisch gefühlt, wenn ich in diesem Haus war. Das war doch von Anfang an so. Ich war nie gerne im Herrenhaus, weil ich es immer ein bisschen gruselig fand. Ich habe instinktiv gespürt, dass es hier spukt.
„Ich bin soweit. Wir können gehen.“ Johanna erschrak. Ihre Mutter stand in der Tür. „Was ist?“, fragte sie. „Hast du gerade einen Geist gesehen?“
„Ja … nee … ich meine, mir ist gerade eingefallen, dass ich noch lernen muss. Morgen schreiben wir eine Mathearbeit.“
„Dann mach hier Schluss“, sagt ihre Mutter. „Ich stelle noch das Putzmittel unter die Spüle, dann fahren wir.“ Ihre Mutter wandte sich ab.
Johanna stand mitten im Zimmer. Wir hatte ihre Mutter noch gleich gefragt: „Hast du gerade ein Geist gesehen?“ Hatte sie dabei nicht gegrinst und kurz zum Tisch hinübergeschielt?
„Alles klar!“, murmelte Johanna. „Da war tatsächlich ein Geist am Werk. Der Geist heißt Agnes Friedmann!“ Ihre Mutter musste den weißen Damestein in einem unbeobachteten Moment verschoben haben, um ihrer Tochter einen Streich zu spielen. „Sowas Fieses!“, brummte Johanna. Sie lief zum Tisch und machte mit ihrem schwarzen Spielstein einen neuen Zug. „Wollen wir doch mal sehen!“, raunte sie. Sie nahm sich vor, beim nächsten Besuch im Herrenhaus gleich nach dem Betreten des Hauses hier ins Zimmer zu kommen und nachzuschauen, bevor ihre Mutter dazu kam, an dem Damebrett etwas zu verändern.
„Genauso mache ich es“, flüsterte Johanna. „Wollen wir doch mal sehen, ob der Geist aktiv war! Jawoll!“ Sie verließ mit ihrer Mutter das Haus.
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