Wenn der Rote Hahn kräht(26) |
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Es war Nacht. Silberberg lag im tiefen Schlaf. Niemand war mehr wach. Niemand sah die kleine Gestalt, die aus dem Wald kam und durch die Gassen im Dorf schlich. Es war Magdalena Hennes. Magdalena war noch immer gefangen in tiefer Trauer wegen Pascal Hennes. Sie kam vor Schmerz schier um. Es war, als hätte man ihr ein Messer ins Herz gerammt und drehe es nun hin und her, immer wieder um und um.
Magdalena weinte lautlos. Sie konnte an nichts anderes denken als an Pascal und Rebekka. Pascal hatte sie aus dem unterirdischen Verlies befreit und sie bei sich aufgenommen. Pascal hatte sie umarmt und ihr gesagt, er habe sie lieb. Ihre Eltern hatten das nie getan. Eine kleine Flamme war ein Magdalenas Herz erblüht, die Flamme der Liebe. Sie weitete ihr das Herz und sie drängte die kalte Flamme ein Stück weit zurück. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Magdalena sich geliebt und sie liebte auch. Sie liebte Pascal und Rebekka.
Pascal hatte versprochen, nach einem Weg zu suchen, wie er den Fluch von ihr nehmen konnte. Magdalena war voller Hoffnung gewesen.
Und jetzt waren Pascal und Rebekka tot, hingemordet von einem wahnsinnig gewordenen Mob von machtgierigen Unmenschen, die dem Fürsten der Dunkelheit zu seiner alten Macht verhelfen wollten, Ungeheuern in Menschengestalt, die in den nächsten drei Monaten fünfzehn Mädchen opfern wollten und danach alle dreizehn Jahre ein weiteres, bis in alle Ewigkeit.
„Das werdet ihr nicht!“, sagte Magdalena. „Es muss ein Ende haben! Ihr habt Pascal und Rebekka ermordet! Das war eure letzte Schandtat! Ich werde es hier und heute Nacht beenden! Ich werde die kalte Flamme zum Erlöschen bringen. Soll sie auch in meinem Herzen verlöschen, das ist mir gleichgültig.“
Jetzt wo Pascal tot war, war Magdalena nichts mehr wichtig. Sie wusste, dass sie in dem Moment sterben würde, in dem die kalte Flamme in ihr erlosch. Dann wäre ihre Seele frei und sie konnte in Gottes Ewigkeit eingehen, genau wie die Seelen all der Mädchen, die in ihren unterirdischen Kerkern eingemauert waren.
„Besser sterben, also ohne Pascal zu leben“, flüsterte Magdalena. Sie weinte noch immer Sie kam zur Dorfmitte. Hier stand das Haus von Adam Stolz, dem Familienältesten, der in der Familie Stolz das Sagen hatte.
„Nicht mehr lange!“, flüsterte Magdalena. „Du selbst hast gesagt, was zu tun ist, Adam Stolz. Ich habe deine Worte gehört.“
Oh ja, das hatte sie. Sie erinnerte sich daran, wie Adam Stolz seine Kumpane mit leuchtenden Augen angeschaut hatte. Seine Worte hallten immer noch in ihrem Kopf wider: „Bald kehrt der Fürst in sein Haus zurück, zurück nach Silberberg. Unsere Häuser werden wieder SEIN Haus sein.“
Da hatte Magdalena gewusst, was mit dem Haus des dunklen Fürsten gemeint war und sie verstand, was Rebekka aus dem Vermächtnis ihrer Urgroßmutter Alba vorgelesen hatte: „Kräht der Rote Hahn auf des Fürsten Haus in einer einzigen Nacht, so bricht die Macht des Dunklen auf immer und die kalte Flamme wird erlöschen und nicht wiederkehren.“
Magdalena starrte das Haus von Adam Stolz an. Es war fast genauso groß wie das Herrenhaus. Es war das Haus eines reichen und einflussreichen Mannes, die Wohnstatt eines Mächtigen.
„Eure Häuser sind SEIN Haus!“, flüsterte sie. „All die Häuser, unter denen kleine Mädchen in kalten Verliesen unter der Erde eingeschlossen sind. Nicht mehr lange!“
Magdalena spürte, wie ihre Trauer und ihr Schmerz wichen, verdrängt von etwas anderem. Die kleine warme Flamme der Liebe loderte in ihrem Herzen auf, angefacht von einem wahren Sturmwind aus blanker Wut. Hass brodelte in Magdalena auf, Hass auf eine Bande von Mördern und Teufelsanbetern, die kleine Kinder opferten. Der Zorn kochte in ihr hoch wie heißes Magma. Sie wusste, dass es hier und jetzt ein Ende haben musste. Sie musste die Dämonenanbeter aufhalten und die Macht des dunklen Fürsten brechen.
Sie hob die Stimme. „Kräht der rote Hahn auf des Fürsten Haus in einer einzigen Nacht,“ rief sie in die Nacht hinaus, „so bricht die Macht des Dunklen auf immer und die kalte Flamme wird erlöschen und nicht wiederkehren!“
Magdalena reckte die Arme in die Höhe. „Roter Hahn!“, schrie sie. „Roter Hahn, höre mich an! Ich rufe dich herbei! Komm herbei und setze dich auf SEIN Haus! Krähe, roter Hahn! Krähe laut auf SEINEM Haus!“ Sie packte all ihren Schmerz, all ihre Wut, all ihre Verzweiflung, all ihre Angst und all ihre Liebe und schleuderte sie auf das große Haus.
Mehrere Sekunden lang passierte nichts. Dann flammte hinter den Fenstern ein Licht auf. Es war grell. Ein orangeroter Blitz zuckte durch das ganze Haus. Flammen loderten auf. Mit lautem Klirren implodierten sämtliche Fenster in der Häuserfront, die zur Straße zeigte, nach innen. Wind fuhr heulend in die zerstörten Fensteröffnungen und entfachte im Inneren des Hauses einen Feuersturm. In Jahrhunderten ausgedörrte Holzdecken brannten wie Zunder. In weniger als fünfzehn Sekunden war das Haus von Adam Stolz ein einziges Flammenmeer. Der rote Hahn war Magdalenas Ruf gefolgt. Er krähte auf dem Dach des Hauses. Das Feuer brüllte.
Nicht nur hier. Überall in Silberberg gingen die Häuser der Angehörigen der fünf Familien in Flammen auf. Tödliches Feuer fraß sich durch das gesamte Dorf.
Astrid Kluding erwachte von lautem Krachen. Sie schaute zum Fenster, das auf die Straße hinausging. Greller, orangefarbener Lichtschein blendete sie. Sie sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war die Hölle ausgebrochen. Das Haus von Adam Stolz brannte lichterloh. Es war ein einziges Flammenmeer. Auf der Straße stand eine kleine Gestalt. Es war ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. Sie hatte die Arme hochgereckt wie eine kleine Rachegöttin, die einen Brand beschwor. Von vorne war sie von den orangeroten Flammen angeleuchtet. Hinter ihr war deutlich ihr schwarzer Schatten zu sehen. Astrid Kluding starrte mit aufgerissenen Augen in die Nacht. Überall im Dorf brannte es. Ganz Silberberg war übersät mit Feuersbrünsten.
„Die Häuser der Familien!“, flüsterte sie. „Sämtliche Häuser der Familien brennen!“
*
Überall im Dorf standen die Leute herum und starrten in die Brände, die im ganzen Ort wüteten. Niemand beachtete die kleine Gestalt, die sich durch die Straßen schleppte. Die Gestalt hatte einen Schatten, aber für die Bewohner von Silberberg war sie so gut wie unsichtbar. Es war Magdalena Hennes. Sie taumelte die Straße entlang wie eine Betrunkene. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, so schwach war sie. Sie fühlte, wie die kalte Flamme in ihr immer kleiner wurde. Sie hatte fast keine Macht mehr über Magdalena.
Mit letzter Kraft schleppte sie sich voran. Jeder einzelne Schritt war ein Kraftakt. Sie war völlig ausgepumpt. Sie war zu Tode erschöpft, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatte all ihre Kraft mit der Anrufung des Roten Hahns verausgabt.
Sie dachte an Johanna, ihre liebe Freundin. Gerne wäre sie zu dem Mädchen gegangen, um noch einmal mit einem freundlich gesonnenen menschlichen Wesen zusammen zu sein, aber der Weg zum Haus der Friedmans war zu weit. Magdalena wusste, dass sie es nicht bis auf die andere Seite des Dorfes schaffen würde. Sie war innerlich ausgehöhlt. Sie war entleert. Sie hatte all ihre Lebenskraft für die Anrufung des Feuers hingegeben. Die kalte Flamme schwand dahin. Mit jeder Sekunde wurde sie schwächer, genau wie Magdalena.
Sie kam zu Albas Hof. Sie torkelte hinter das Haus. Sie wollte die Hintertür versuchen, um hinein zu gelangen, aber sie war zu schwach. Mitten auf dem kleinen, gepflasterten Platz hinterm Haus brach sie zusammen. Sie fiel auf die Knie. Sie musste erst mal tief durchatmen, bevor sie sich bewegen konnte. Sie setzte sich im Schneidersitz hin und lauschte auf ihr Inneres. Sie war zum Platz des Anfangs zurückgekehrt. Hier hatte alles begonnen. Hier hatte Pascal sie aus ihrem unterirdischen Verlies befreit und ihr ein neues Leben geschenkt, ein Leben in Freiheit und Liebe. Pascal hatte versprochen, nach einem Weg zu suchen, um Magdalena vollends von dem Fluch zu erlösen, der auf ihr lastete.
Magdalena ließ den Kopf hängen. Sie wusste, dass es keine Erlösung für sie gab. Pascal war tot. Er konnte sie nicht mehr erlösen. Rebekka war genauso tot und sie selbst würde auch bald tot sein. Wenigstens würde sie dann frei sein, frei von dem grausamen Fluch, der sie fast vier Jahrhunderte geknechtet hatte. Sie würde frei sein von der bösartigen dämonischen Macht, die sie in all den Jahrzehnten beherrscht hatte. Sie hatte diese Macht vernichtet. Sie hatte IHN vernichtet, das konnte sie spüren. SEIN Haus, das in den Häusern der fünf Familien war, war niedergebrannt.
In der Ferne erklang lautes Tatü-tata. Die Feuerwehr kam. Jemand von den Weltlichen musste sie gerufen haben, oder welche von denen, die nur noch sehr lose mit den fünf Familien verbunden waren. Die Feuerwehr kam zu spät. Sie würden nichts mehr ausrichten können. Das Feuer, das sämtliche Häuser der fünf Familien verzehrte, war ein besonderes Feuer. Es war wie ein Sturm über SEIN Haus gekommen und hatte es verschlungen, vernichtet in einem brüllenden Feuersturm. In einer einzigen Nacht.
Keiner der Erwachsenen war entkommen. Das Feuer hatte sie im Schlaf überrascht, aber Magdalena hatte gesehen, wie Kinder aus den brennenden Häusern flohen. Die noch unschuldigen Kinder waren vom Roten Hahn verschont worden. Alle anderen waren nicht mehr. Sie waren tot. Wie Pascal.
„Pascal!“, klagte Magdalena. Sie war unendlich traurig. Sie begann zu weinen. „Pascal!“ Sie fühlte jetzt nichts mehr außer Verzweiflung und unendlicher Traurigkeit. Sie war ganz allein in der Nacht und die kalte Flamme in ihr erlosch allmählich, gab Magdalenas Seele frei. Sie konnte spüren, wie überall unter Silberberg kleine eisige Flammen erlöschen. Sie hörte das Seufzen der Mädchen, deren Seelen frei wurden und die friedlich eingingen in Gottes Ewigkeit. Sie waren erlöst. Sie mussten nicht mehr auf immer eingeschlossen unter der Erde leben. Sie schliefen sanft ein, ohne Angst.
Magdalena wollte noch einmal den Kopf heben, um in die Nacht hinaus zu schauen, aber sie hatte die Kraft dazu nicht mehr. Sie fühlte, wie die kalte Flamme in ihr erlosch, wie sie verging und ihre Seele freigab. Sie dachte noch einmal an Pascal und an Rebekka und an Johanna, die einzige Freundin die sie in ihrem Leben gehabt hatte.
Die kalte Flamme funkelte noch einmal in ihrem Herzen und dann verging sie. Wärme breitete sich in Magdalenas Herz aus, hüllte sie sanft ein. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter in die Arme genommen wird. Alle Verzweiflung und Traurigkeit verschwanden. Magdalena fühlte nur noch Friede. Dann ging es zu Ende und sie fühlte nichts mehr.
*
Am folgenden Tag untersuchten Polizei und Feuerwehr die abgebrannten Häuser. Man fand heraus, dass es sich nicht um Brandstiftung handelte. Die Häuser waren kurz nach Mitternacht alle gleichzeitig in Brand geraten. Das Feuer hatte die alten zundertrockenen, größtenteils aus Holz erbauten Häuser völlig verwüstet. Sie waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
Die Leute begannen zu munkeln. Nur Häuser der fünf Familien waren verbrannt und nur die Häuser derer, die den Familien wirklich sehr nahestanden. Etliche Häuser von Leuten, die nur noch über sieben Ecken mit den Familien Stolz, Theiß, Dahl, Köhler und Hennes verwandt waren, waren verschont geblieben.
Von einer bösen Macht war die Rede, einer Macht, die seit Jahrhunderten über Silberberg geherrscht hatte, angebetet von den fünf Familien, die dieser Macht ihre eigene Macht und ihren Wohlstand verdankten. Diese böse Macht hatte sich gegen die Familien gewandt und sie mit Stumpf und Stiel ausgelöscht. Alle waren sie in ihren Häusern verbrannt. Lediglich einige Kinder waren den Bränden wie durch ein Wunder entkommen. Sie kamen bei entfernten Verwandten unter.
„Da war ein Gang, der mitten durch das Feuer führte“, erzählte ein siebenjähriger Junge aus der Familie Stolz den Polizeibeamten. „Ich konnte hindurch gehen, ohne mich zu verbrennen. Ich habe noch schnell mein kleines Schwesterchen aus ihrem Bettchen geholt und bin dann nach draußen gelaufen. Hinter mir hat sich der Gang, der durchs Feuer führte, geschlossen. Ich konnte nichts mitnehmen außer meiner kleinen Schwester und unserer Familienbibel.“ Er zeigte den Beamten ein kleines, altes, in Leder gebundenes Buch. „Mama und Papa sind nicht rausgekommen. Ihr Schlafzimmer ist oben und da hat es ganz furchtbar schlimm gebrannt. Sie sind tot.“ Die anderen überlebenden Kinder berichteten ähnliches.
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