Am nächsten Morgen läuteten überall die Glocken in den Dörfern. Themas schreckte aus dem Schlaf auf. Hastig zog er sich an und ging nach draußen. Dort hatte sich bereits eine Suchmannschaft zusammengefunden.
„Jemand hat sich verirrt“, sagte Helger Badin der Metallsucher, als Themas fragte, was los sei. „Wir müssen sie suchen gehen, ehe etwas Schlimmes passiert.“
„Kann ich mitkommen?“, fragte Themas.
Helger schüttelte den Kopf: „Du weißt doch, dass nur Erwachsene zur Suchmannschaft gehören, Themas Irrlucht.“
Themas schaute den davonziehenden Männern hinterher.
Trischa kam zu ihm. „Stell dir vor, eine ganze Familie hat sich verirrt“, sagte sie. Sie schaute ihn voller Angst an. „Es sind Otleff und Wanty Keplack aus Lehmweiler mit … mit ihren Kindern.“
Themas verstand. Er kannte die Keplacks. Sie hatten Zwillinge, zwei kleine Jungen, die demnächst abgestillt werden würden. Dann musste der zweitgeborene Junge unter die Treppe. Kein Wunder, dass Otleff und Wanty geflohen waren.
Hoffentlich schaffen sie es, dachte er. Ich drücke euch die Daumen, ihr Keplacks. Ich wünsche mir, dass ihr entkommt. Eure Chancen stehen gut. Wir haben Neumond. Bei Neumond schläft das Lehm nachts tief und fest.
Dann fiel ihm ein, dass Rallie Hoekker ebenfalls in einer Neumondnacht geflohen war. Sie hatte es nicht geschafft. Sonst wären am Tag danach nicht ihre Kleider an die Dammstraße gespült worden.
Themas sah, wie Trischa immer wieder zum Haus der Banbirks blickte.
Sie schaut zu ihrer Zwillingsschwester, überlegte er. Sie hat Angst um sie.
Er selbst hatte ebenfalls Angst – Angst um seinen Bruder Thimas. Wenn die Keplacks entkamen, würde das Lehm wütend sein und vielleicht eine zusätzliche Gabe verlangen. Das passierte oft. Bei Rallie Hoekkers Flucht hatte das Lehm keine Extragabe gefordert. Doch diesmal würde es eine zur Besänftigung haben wollen, dessen war er sich sicher.
Trischa drängte sich dich an ihn. Er spürte, dass sie zitterte und legte einen Arm um ihre Schultern. Er fühlte ihre Angst.
Überall um sie herum standen Menschen und hatten Angst.
Alle fürchten sich, dachte Themas. Alle haben Angst vor dem Lehm. Es ist abartig! Es ist nicht normal! So sollte es nicht sein! Man sollte nicht ein Leben in Furcht verbringen. Das Lehm ist böse! Wieso verlangt es Menschenopfer? Es hat mehr als genug Nahrung! Von draußen kommen Tiere ins Lehm, Kaninchen und Waldvögel, Rehe und Hirsche und Wildschweine.
Er wusste nur zu gut, dass es dem Lehm nicht um Nahrung ging. Er hatte es oft genug in der Predigt gehört. Das Lehm verlangte die Gabe von den Menschen, damit die Menschen überhaupt im Lehm leben konnten. Nur wenn es regelmäßige Opfer erhielt, war das Lehm den Menschen wohlgesonnen. Nur dann war es fest genug, dass man Häuser auf seiner Oberfläche bauen konnte und man über die Sandfelder gehen konnte, ohne einzusinken, ohne vom Untergrund verschlungen zu werden.
Warum sind wir dann überhaupt hier?, fragte er sich. Wenn wir alle hinausziehen, kann das Lehm zusehen, wo es seine Opfer herkriegt! Dann wären wir frei. Warum stehen wir nicht auf und gehen fort?
Er kannte die Antwort. Es war schlicht unmöglich. Das Lehm würde sie nicht ziehen lassen. Es würde die Menschen verschlingen. Das Lehm ließ nicht los, was ihm gehörte. Tante Brilla hatte ihm erzählt, dass zwei Generationen zuvor eine größere Gruppe Menschen auswandern wollte. Sie wollten das Lehm verlassen. Sie kamen bis zum Rand des Lehms. Dann verschlang sie der Boden. Alle, ohne Ausnahme. Männer, Frauen und Kinder. Keiner überlebte. Das Lehm ließ niemanden ziehen.
Nur gelegentlich gelang einzelnen Menschen die Flucht. Von drei Flüchtlingen erreichte höchstens einer das rettende Draußen. Selbst in den Neumondnächten erwischte das Lehm die meisten, die fliehen wollten und brachte sie um.
Trischa zitterte noch immer. Er drückte sie ein wenig fester, um sie zu trösten. Sie blickte ihn an. „Egal wie es ausgeht. Diesmal wird es nicht ohne eine Extragabe abgehen.“ Sie sprach nicht laut, weil Leute in der Nähe standen. Sie flüsterte nur. „Das Lehm ist außer sich vor Zorn. Sieh doch!“ Sie zeigte die Straße hoch, die am Haus der Errlings vorbei, wo es ins offene Land vorm Dorf hinaus ging.
Dort warf die Oberfläche des Lehms Falten. Dünen, fast zwei Meter hoch, glitten mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Kamels über die Heide. Sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren und tauchten ein Dutzend Schritte weiter wieder aus dem Sand auf. Fontänen aus Sand und Lehm spritzten aus dem in Bewegung geratenen Untergrund. Dicke Lehmbrocken flogen umher.
Momentan war es keine gute Idee, das sichere Dorf zu verlassen und die Sandfelder zu betreten. Der Untergrund war nicht sicher.
Die Leute sahen sich an. Nackte Furcht stand in ihren Augen.
„Das wird schlimm werden!“, sagte die alte Naddy Treml. „Glaubt mir, das wird schlimm! Ich weiß es!“
*
Am späten Nachmittag stand Themas am Dorfrand. Er schaute die Dammstraße entlang, die an der Statue der Lehma vorbei nach Landsweiler führte. Rechts und links der Straße war das Lehm in Aufruhr. Der gesamte Boden schien in permanenter Bewegung zu sein. Überall wanderten kleine Sanddünen umher. Wannenförmige Vertiefungen bildeten sich und füllten sich mit Wasser. Heidekrautbüschel wurden in die Höhe gedrückt und im nächsten Moment vom lehmigen Boden verschlungen. Auf den Wiesen sackten ganze Grasbeete weg und verschwanden. Nur Sand blieb zurück, Sand, der Wellen schlug.
Zur Mittagszeit waren die Ärlemons mit ihrer Herde ins Dorf gekommen.
„Da draußen ist es nicht geheuer“, hatte Mork Ärlemon berichtet. „Gleich zwei unserer Schafe wurden vom Boden verschlungen, als sie sich ein Stück weit von der Herde entfernten.“
Themas betrachtete die Landschaft vorm Dorf. Sie hatte nichts Heimeliges mehr an sich. Der rote Sand wirkte trügerisch und gefährlich. Die Heidekrautpolster schienen Unmengen von kurzen Fangarmen in die Luft zu recken, bereit, jeden Unvorsichtigen festzuhalten, der durch sie hindurch schritt. Die Knorrenbüsche wedelten mit ihren hölzernen Ästen. An manchen Stellen öffneten sich Löcher im Lehm und Wasserfontänen spritzten in die Höhe. Es gurgelte und blubberte.
Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Themas sich der Tatsache bewusst, dass er und seine Leute auf der Oberfläche eines gefährlichen Sumpfes lebten. Sie konnten jederzeit in diesem Sumpf versinken. Und das Schrecklichste war, dass es ihnen verwehrt war, diesen bösartigen Sumpf zu verlassen und draußen auf festem Boden zu leben.
Die Keplacks scheinen es geschafft zu haben, dachte er. Sonst wäre das Lehm nicht so aufgebracht.
Es freute ihn, dass es vier Menschen gelungen war, dem Lehm zu entkommen. Er wünschte sich von ganzem Herzen, seine Eltern würden ebenfalls fliehen, zusammen mit ihm und seinem Zwillingsbruder.
Jemand trat neben ihn. Es war Trischa Banbirk. Sie sah ihn mit ihren honigfarbenen Augen an. „Sie sind entkommen“, flüsterte sie. „Sonst wäre das Lehm nicht so aufgebracht. Es ist außer sich vor Zorn. Themas, ich habe Angst. Du weißt, um wen!“
„Ja“, sagte er. „Ich weiß es. Ich habe auch Angst und du weißt, um wen.“ Er presste die Lippen zusammen und schluckte. „Aber ich freue mich, dass die Keplacks entwischt sind. Ich wünschte, ...“ Er ließ den Satz unbeendet.
Trischa wurde blass. „Themas!“ Sie flüsterte nur.
„Doch!“, beharrte er. Er schaute auf das Grasland und die Heide hinaus, wo der Boden sich wölbte und wieder senkte, als bewegte sich das Lehm in einem Fieberanfall. Was seine Augen sahen hatte mit Heimat nichts mehr zu tun. Es war fremdartig und erschreckend. Es war bösartig. Er fürchtete sich. „Ich möchte weg von hier!“ Er schaute Trischa in die Augen: „Und du auch!“
„Nein!“, wisperte sie.
„Doch!“, gab er ebenso leise zurück. „Du würdest gerne wegkommen vom Lehm. Mit deiner Schwester. Du traust dich bloß nicht, darüber nachzudenken. Ich traue mich auch erst seit ein paar Tagen, Trischa. Es sind erschreckende Gedanken und traurige dazu.“
Auf der Dammstraße näherte sich eine große Gruppe Männer.
„Die Suchmannschaft ist zurück!“, rief Trischa. Sie machte den Hals lang und schaute angestrengt: „Sie scheinen niemanden gefunden zu haben.“
„Wie denn auch?“, flüsterte Themas. „Wenn sie ins Draußen entwischt sind, konnten sie niemanden finden und wenn sie es nicht geschafft haben, hat das Lehm sie sich geholt.“
Die Männer kamen beim Dorf an. Vorneweg schritt Helger Badin. Als er die fragenden Blicke von Themas und Trischa wahrnahm, schüttelte er den Kopf: „Ihre Kleidung ist an den Damm gespült worden.“
Mit hängenden Köpfen gingen die Männer an Themas und Trischa vorbei. Sie sahen müde aus.
Die Dorfbewohner erwarteten sie voller Furcht. Als sie hörten, dass es den Keplacks nicht gelungen war, zu entkommen, atmeten die meisten auf. Das Lehm hatte die Flüchtenden geholt. Vielleicht würde es sich mit diesen vier Personen zufrieden geben. Vielleicht würde es keine Extra-Gabe verlangen.
Trischa blickte zwischen den Häusern ins offene Land hinaus. Dort wand und wölbte sich das Lehm noch immer. „Es wird Extra-Gaben verlangen“, wisperte sie. „Mehr als nur eine Gabe!“
Themas sah, wie sie mit Gewalt die Tränen zurückhielt.
Er wusste, dass sie Recht hatte. Er fühlte sich entsetzlich hilflos.
|