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Stefan Steinmetz
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Wenn der Rote Hahn kräht(5) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Am nächsten Morgen klingelte es gegen neun Uhr. Draußen stand eine Frau Anfang dreißig mit schwarzem Haar und hellblauen Augen. Neben ihr stand ein zehnjähriges Mädchen, das aussah wie eine Miniaturausgabe der Frau, nur dass seine Augen von einem sehr dunklen Blau waren.
„Guten Morgen, Herr Hennes“, sagte die Frau. „Ich bin Agnes Friedmann. Wir sind verabredet.“ Sie legte dem Mädchen neben sich einen Arm um die Schultern. „Das ist meine Tochter Johanna. Ich habe sie mitgebracht, weil sie heute schulfrei hat. Ihre Lehrer machen einen Ausflug.“
Pascal schüttelte den beiden die Hand. Er machte eine einladende Geste: „Kommen Sie herein. Setzen wir uns in die Küche.“
Am Küchentisch besprachen Pascal und Agnes die Arbeit. „Hier gibt es viel zu tun“, meinte er. „Der Kasten ist ziemlich groß. Was hat ihnen Ellen denn bezahlt?“
Agnes nannte ihm den Stundenlohn.
Pascal blieb die Spucke weg. „Das zahle ich nicht!“, sagte er. „Das kann ja wohl nicht sein!“
Agnes sah ihn erschrocken an. „Ist es zu viel?“
„Zu viel? Viel zu wenig!“ Pascal schüttelte den Kopf. „Das nenne ich Ausbeutung. Das regeln wir anders.“ Er nannte einen sehr viel höheren Betrag.
Agnes blieb der Mund offenstehen. „So viel?“ Sie war sichtlich erfreut. „Ja gerne, Herr Hennes.“
„Was die Putzerei angeht, muss ich Ihnen wohl nichts erklären“, meinte Pascal. „Sie kennen sich aus, schätze ich.“
Agnes nickte. „Ja, tue ich. Ich besorge auch immer die Sachen, die ich brauche: Reinigungsmittel fürs Bad, Teppichschaum, Staubsaugerbeutel und all das. Ich lege Ihnen dann immer den Kassenzettel aus dem Supermarkt vor.“
„Ist ein ziemliches Ding“, meinte Pascal. „Ein Supermarkt in einem solch kleinen Dorf.“
„Er ist groß“, sagte Agnes. „Die Leute aus den umliegenden Dörfern kommen zum Einkaufen hierher. Der nächste Supermarkt liegt mehr als fünfzehn Kilometer weit weg in einer Kleinstadt. Die Leute aus den fünf Familien vermeiden es möglichst, das Dorf zu verlassen. Sie kaufen nur hier ein oder bestellen Sachen im Versandhandel.“
Pascal musste an das denken, was der Notar ihm erzählt hatte. Dass die fünf Familien tief im Dorf verwurzelt waren und nie weggingen.
Scheinen komische Käuze zu sein, überlegte er. Er schaute zu Johanna hin, die neben dem Tisch stand. Das Mädchen hatte sich nicht gesetzt. „Gehst du immer mit deiner Mutter mit, wenn sie zum Putzen kommt?“
Johanna schüttelte den Kopf. „Nein. Nie. Nur wenn ich schulfrei habe“, sagte sie.
Die Kleine mochte wohl meine liebe Verwandte nicht, dachte Pascal. Wenn Ellen so geizig war, dass sie Agnes nur einen Hungerlohn zahlte, war sie gewiss ein unangenehmer Mensch. Kinder spüren so etwas. Kinder haben feine Antennen.
„Du mochtest die vorherige Hausherrin wohl nicht besonders?“, fragte er rundheraus.
Johanna schaute zu Boden. Dann blickte sie auf. „Geht so“, sagte sie.
„Warum bist du dann nicht bei deiner Mutter, wenn sie putzt?“
„Ich gehe doch zur Schule, wenn Mama putzen kommt“, sagte das Mädchen. „Außerdem …“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Außerdem?“, fragte Pascal nach.
„Ich bin nicht gerne im Herrenhaus.“
„So? Und weshalb nicht?“
Johanna schaute ihn aus großen Augen an. „Unten im Keller soll es ein Verlies geben, sagt man. Da sperren die Hennesleute kleine Kinder ein.“
Pascal unterdrückte ein Grinsen. „Ein geheimer Kerker oder etwas in der Art?“ Nun musste er doch schmunzeln. „So wie dieser riesige Kasten von außen aussieht, kann ich mir gut vorstellen, dass man sich solche Sachen ausdenkt.“
„Ach, das ist eine uralte Geschichte“, sagte Agnes. „Man erzählt sie, um Kindern damit ein bisschen Angst einzujagen.“
„Nun, in jeder Geschichte steckt ein wenig Wahrheit, oder?“, fragte Pascal. Er sah, wie Agnes zusammenzuckte. Er tat, als hätte er es nicht bemerkt und zwinkerte Johanna zu: „Ich war noch nicht im Keller. Ich bin ja gerade erst eingezogen. Sollen wir runtergehen und nachschauen, ob wir das Verlies finden?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein. Auf keinen Fall! In den Keller geh ich nicht. Mama auch nicht. Sie putzt nur hier und im oberen Stockwerk.“ Sie linste zur Tür. „Aber …“
„Ja?“, fragte Pascal.
Johanna warf ihrer Mutter einen Seitenblick zu. „Mama sagt, ich soll nicht im Haus herumstreifen. Aber …“ Sie zeigte zur Tür. „In dem großen Zimmer da hinten … da hängen Bilder an der Wand. Im Zimmer daneben auch. Die würde ich mir gerne ansehen.“
„Nur zu“, ermunterte Pascal seinen kleinen Gast. „Schau dir alles an, was dich interessiert. Vom Angeschautwerden gehen Bilder schließlich nicht kaputt.“
„Die Frau …“, begann Johanna. „Die wollte nicht, dass ich es mir anschaue.“
„Sie ist nicht mehr hier“, sagte Pascal. „Sie kann dir nichts mehr verbieten. Ich erlaube dir, die Bilder so lange anzusehen wie du willst. Ich habe sie mir selbst noch nicht richtig angeschaut. Scheinen alte Dorfansichten zu sein und ein paar Portraits von irgendwelchen Vorfahren. Geh nur.“ Er grinste. „Du musst bloß aufpassen, dass du dich nicht verirrst, so groß wie dieses Haus ist.“
„Danke“, sagte Johanna. Sie verließ die Küche.
Agnes wartete, bis das Mädchen weg war. Dann lehnte sie sich über den Tisch. „Die Geschichte hat tatsächlich so etwas wie einen wahren Kern“, sagte sie. Sie sprach leise. „In Silberberg sind in der Vergangenheit manchmal Kinder verschwunden. Einfach so. Von einem Tag auf den anderen.“
„Kinder verschwunden?“, fragte Pascal.
Agnes nickte. „Es waren immer Mädchen. Noch ganz jung. Acht bis zwölf Jahre alt. Manche noch jünger. Sagt man jedenfalls.“
„Was ist aus ihnen geworden? Sind sie ausgerissen?“
„Das weiß man nicht. Jedenfalls sollen sie nie wieder aufgetaucht sein. Sie blieben verschwunden. Das war früher, vor langer Zeit. Es ist lange her.“ Agnes schaute ihn aus ihren hellblauen Augen an. „Es waren immer Mädchen aus den fünf Familien. Aus den Familien Stolz, Hennes, Theiß, Dahl und Köhler.“ Sie lehnte sich zurück. „Sagt man jedenfalls. Man spricht nicht viel darüber. Nur hinter vorgehaltener Hand. Die fünf Familien haben ziemliche Macht, sage ich jetzt mal. Sie haben Einfluss im Dorf und über das Dorf hinaus. Man spricht als Weltliche nicht über solche Sachen, wenn einer aus den Familien das aufschnappen könnte. Das könnte Konsequenzen haben.“
„Tatsächlich?“ Pascal wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Aber er musste daran denken, wie ablehnend ihm das Herrenhaus vorgekommen war, als er zum ersten Mal davorstand. Er erinnerte sich an das komische Gefühl, dass ihn beschlichen hatte. Mit diesem Haus stimmt etwas nicht, hatte er gedacht. Es sieht irgendwie unangenehm aus.
„Die fünf Familien haben ihre Geheimnisse“, sagte Agnes. „So viel steht fest. Das mit den verschwundenen Kindern ist so ein Geheimnis. Man sagt, es ging da nicht mit rechten Dingen zu. Man schnüffelt besser nicht im Privatleben der fünf Familien herum.“ Ihr schien etwas einzufallen. „Nun ja … Sie sind ja einer von denen …“ Sie sah aus, als mache sie sich Sorgen, dass Pascal das, was sie gesagt hatte, an die Familien weitertragen könnte.
„Ich fühle mich nicht dazugehörig“, sagte Pascal. „Ich fühle mich wie jemand, der von außerhalb ins Dorf gezogen ist.“
Agnes nickte. „Ja, Ihre Leute sind damals weggegangen, als das Erdbeben die Silbermine zum Einsturz brachte.“ Sie stand auf. „Wir gehen dann mal. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich dann jede Woche am gleichen Tag wie früher zum Putzen.“
Pascal erhob sich. „Ist mir recht, Frau Friedmann.“ Sie gingen ins Zimmer nebenan, wo Johanna vor einem Bild stand, das an der Wand aufgehängt war.
Pascal trat neben sie. Auf dem Bild war ein Mädchen in Johannas Alter zu sehen. Das Mädchen hatte ein schmales, hellhäutiges Gesicht, das von dunkelblondem Haar eingerahmt wurde. Die Augen in dem hellen Gesicht waren von dunklem Blau.
Im geschnitzten Bilderrahmen gab es eine Inschrift: Magdalena Hennes, 1631
„Sieht aus wie eine Verwandte aus fernen Zeiten“, sagte Pascal. „Sechzehnhunderteinunddreißig. Wow! Das Gemälde ist bemerkenswert gut erhalten. Die Kleine sieht richtig lebendig aus.“
„Sie sieht traurig aus“, sagte Johanna. Ihre Stimme war so leise, dass man sie fast nicht verstand. „Als ob sie sich vor etwas fürchtet, dass auf sie zukommt. Immer wenn ich dieses Bild anschaue, tut das Mädchen mir leid.“
*
Nachdem Agnes Friedmann mit ihrer Tochter gegangen war, steckte Pascal eine zusammengefaltete Stofftasche in seine Jackentasche. Er verließ das Haus und machte sich auf den Weg zur Dorfmitte. Er wollte sich ein wenig umsehen und schauen, ob er im Supermarkt frisches Brot und Wurst auftreiben konnte. Im Herrenhaus gab es massig Vorräte, Sachen in Gläsern und Dosen, aber das Brot im Brotkasten war steinhart gewesen. Ellen und Adam waren schon viele Tage tot.
Pascal spazierte in aller Ruhe die in Kurven und Schleifen mäandernden Straßen entlang. Mal bog er rechts ab, dann links, um bald wieder auf die Straße zurückzukehren, die ihn vor einiger Zeit zum Herrenhaus gebracht hatte. Überall standen alte südwestdeutsche Bauernhäuser. Sie waren alle größer als üblich und beinahe jeder Hof hatte einen L-förmigen Grundriss. Man konnte den Wohlstand der Bewohner erkennen. Diese großen Höfe hatten Geld gekostet. Da war nicht gespart worden.
Die Dorfstraßen, die die Gehöfte weiträumig umkurvten schienen an den Grundstücksgrenzen entlang zu führen. Oft standen die Höfe zwanzig Meter und mehr von der Straße entfernt.
Als ob keine Straße über privaten Grund und Boden führen dürfte, dachte Pascal.
Er kam an vielen Häusern vorbei, deren Bewohner vorm Haus standen und saßen. Sie schienen auf ihn gewartet zu haben, denn sobald sie seiner ansichtig wurden, kamen sie zur Straße und begrüßten ihn freundlich, um ein kleines Schwätzchen anzufangen. Man teilte ihm mit, dass man sich freue, dass er nach Hause zurückgekehrt war.
„Es ist schön, dass du da bist“, sagte eine Frau, die sich als Alice Stolz vorstellte. „Du bist wieder zu Hause, Pascal. Das ist gut.“
Alle sagten ähnliches. Alle freuten sich, dass er nach Silberberg gezogen war. Sie begrüßten ihn und luden ihn ein. Alle trugen die gleichen Nachnamen – die Namen der fünf Familien: Stolz, Hennes, Theiß, Dahl und Köhler. Nur Leute aus den fünf Familien begrüßten ihn und wünschten ihm ein warmes Willkommen. Die Weltlichen taten nichts dergleichen.
Es gab Menschen, die Pascal geradezu misstrauisch anschauten und andere winkten nur kurz, wenn er grüßte. Es war seltsam.
Als ob sie nicht damit einverstanden sind, dass ich nach Silberberg gekommen bin, überlegte Pascal. Und die „lieben Verwandten“ tun so enthusiastisch. Die übertreiben fast mit ihren Glückwünschen und dem Willkommensgetue.
Er kehrte auf die Straße zurück, die ihn zur Dorfmitte bringen würde. Er kam an dem Haus vorbei, wo die hübsche junge Frau mit den grünen Augen im Garten gearbeitet hatte, das entzückende Mädchen, das ihm den Weg zum Herrenhaus beschrieben hatte. Im Vorgarten war niemand zu sehen. Das Mädchen war nicht da. Pascal fühlte leise Enttäuschung in sich aufsteigen.
Zwei Häuser weiter überfielen ihn Mitglieder der Familie Theiß. Sie freuten sich, ihn zu sehen. „Willkommen zu Hause, Pascal“, sagte die Frau des Hauses. „Es ist gut, dich hier zu haben. Fühl dich wie zu Hause, denn hier ist dein wahres Zuhause. Willkommen zurück aus der Fremde.“
Pascal hätte gerne nach dem grünäugigen Mädchen gefragt, aber er traute sich nicht recht.

Der Supermarkt hatte etwas mit dem alten Herrenhaus gemeinsam: Es war ein riesiger Kasten.
„Junge, Junge!“, murmelte Pascal, als er das Gebäude und den großen Parkplatz erblickte.
Es war wirklich groß. Er holte sich einen Einkaufswagen und betrat den Markt. Drinnen sah er sich ausgiebig um. Es war, wie man ihm gesagt hatte. Hier gab es alles. Lebensmittel, Bekleidung, Gartengeräte, Werkzeuge, Gebrauchsartikel aller Art, Elektrogeräte, Fernseher, Computer, Smartphones, Autozubehör und vieles mehr. Man konnte in Silberbergs großem Supermarkt so gut wie alles kaufen. Es gab sogar eine Möbelabteilung.
An der Fleisch- und Wursttheke lies Pascal sich Salami und Bierschinken abwiegen. Er nahm Butter und ein Glas Erdbeermarmelade mit und eine Tüte Milch. Er hätte gerne mehr gekauft, aber er musste das Zeug in der kleinen Stofftasche unterbringen.
Während er an der Kasse bezahlte, nahm er sich vor, demnächst mit dem Auto anzurücken und noch mehr einzukaufen.
Im Gang vor den Kassen gab es einen Zeitschriftenladen, wo man auch Tabakwaren bekam und man Lotto spielen konnte. Direkt daneben lag eine Bäckerei mit einem kleinen Nebenraum, der als Café eingerichtet war. An Tischen konnte man Kaffee und Kuchen genießen.
Pascal stellte sich an die Brottheke und fragte nach einem Ein-Pfund-Mischbrot. „Ich bin neu im Dorf“, sagte er zu der Verkäuferin, einer rothaarigen Endzwanzigerin mit grünen Augen, die denen des hübschen Gartenmädchens glichen. „Mein Name ist Pascal Hennes. Ich habe das Herrenhaus in der Silberstraße geerbt.“
„Habe ich mir gleich gedacht, dass Sie der Neue sind“, antwortete die Frau. Sie wirkte freundlich und aufgeschlossen auf Pascal. Er spürte nichts von dem Misstrauen, dass einige Leute im Dorf ihm entgegengebracht hatten. Wahrscheinlich war sie eine Frau aus einer der fünf Familien.
„Astrid Kluding“, stellte die Frau sich vor. Sie grinste Pascal schelmisch an. „Eine Weltliche. Willkommen in Silberberg.“ Sie packte das Einpfund-Brot in eine braune Papiertüte und reichte es Pascal. Plötzlich wirkte sie ernst. „Sind Sie sicher, dass es eine gute Idee war, nach Silberberg zurückzukommen, Herr Hennes? Sie sind doch ein Nachkomme von denen, die das Dorf 1891 verlassen haben, nicht wahr?“
„Ja“, gab Pascal zur Antwort. Er wusste nicht recht, was er von Astrids Frage halten sollte. War es eine gute Idee gewesen, nach Silberberg zu kommen? Zurückzukommen, korrigierte er sich in Gedanken. Er dachte an die Worte seines Großvaters: „Silberberg ist kein guter Ort. Es gibt dort nichts Gutes. Pascal, komm niemals auf die Idee, dorthin zu gehen. Es hatte einen Grund, warum Roland und Irene damals mit ihren Kindern von Silberberg weggingen. Es war kein guter Ort und ist bis heute keiner. Gehe nie dorthin.“
Er war nach Silberberg gekommen, um ein Erbe anzutreten, allen Warnungen seines Großvaters zum Trotz. Und nun stand er vor einer Frau, die ihn fragte, ob er es für eine gute Idee hielt, nach Silberberg zu kommen. Er fühlte ein seltsames kaltes Gefühl in der Magengegend. Da war etwas, dass er nicht richtig benennen konnte, etwas am Rand seiner Wahrnehmung. Ein Gefühl. Ein warnendes Gefühl. Aber dann wischte er den Gedanken beiseite. Er musste an die Worte von Agnes Friedmann denken. Verschwundene Kinder. Geheimniskrämerei im Kreis der fünf Familien. Alte Geschichten. Geschichten, von denen wahrscheinlich nicht mal die Hälfte auf Wahrheit beruhte. Gerüchte. Geschichten. Geschwätz.
Er war hier und er hatte das Erbe angetreten. Basta.
„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, sagte er zu Astrid. „Warum sollte es keine gute Idee sein, nach Silberberg zu kommen?“
Astrid zuckte mit den Schultern. „Die alten Geschichten halt. Nichts von Bedeutung. Aber Ihre Vorfahren haben Silberberg verlassen.“ Sie warf einen Blick in die Runde, ob jemand ihr Gespräch belauschen konnte. Dann beugte sie sich über die Theke und sagte leise: „Sie sind nicht einfach weggegangen, Herr Hennes. Ihre Leute sind damals geflohen!“
Pascal hob die Augenbrauen. „Geflohen?“
Astrid Kluding nickte. „Geflohen!“
„Geflohen vor was oder wem?“, fragte Pascal. Er überlegte angestrengt. Hatte es einen Dorfkrieg gegeben? Streit unter den fünf Familien? Eine Ehrensache?
„Sie wollten nicht …“ Astrid zögerte. Noch einmal sah sie sich um. „Sie wollten sich schützen. Mehr weiß man nicht. Sie sind damals Hals über Kopf geflohen. Meine Großmutter hat es mir erzählt. Die hatte es von ihrer Großmutter. Roland und Irene Hennes sind mit ihren Kindern aus Silberberg geflohen.“
„Kinder?“, fragte Pascal.
Astrid nickte. „Ja, sie hatten Kinder. Zwei. Gertrud war neun Jahre alt, ihr kleiner Bruder Otto war zwei.“
Pascal fühlte einen Schauer seinen Rücken hinunter laufen. Die Worte seines Großvaters gingen ihm erneut durch den Kopf: „Silberberg ist kein guter Ort. Es gibt dort nichts Gutes. Pascal, komm niemals auf die Idee, dorthin zu gehen. Es hatte einen Grund, warum Roland und Irene damals mit ihren Kindern von Silberberg weggingen. Es war kein guter Ort und ist bis heute keiner. Gehe nie dorthin.“
Es hatte einen Grund, warum Roland und Irene damals mit ihren Kindern von Silberberg weggingen.
Weggingen, nicht flohen. Aber wenn es einen triftigen Grund gegeben hatte, zu gehen, vielleicht war es wirklich eine Flucht gewesen. Eine Flucht wovor?
Sie wollten sich schützen, hatte Astrid gesagt. Schützen vor was? Vor einer Bedrohung?
Astrid nahm das Geld für das Brot von ihm an. Sie gab ihm Wechselgeld zurück. „Passen Sie gut auf sich auf, Herr Hennes“, sagte sie. „Ich wünsche Ihnen alles Gute.“
Als Pascal den großen Parkplatz draußen vor dem Supermarkt überquerte, war er nachdenklich. „Passen Sie gut auf sich auf, Herr Hennes.“ Wovor sollte er sich hüten? Wozu sollte er auf sich aufpassen?
Eine Weltliche hatte ihm diesen Rat gegeben. Die Leute aus den fünf Familien hatten ihn nicht gewarnt. Sie hatten ihn überschwänglich willkommen geheißen. Wie den verlorenen Sohn, der nach Jahren in der Fremde nach Hause zurückgekommen war.
Als er die Straße nahm, die ihn zum Herrenhaus bringen würde, kam ein Wagen angefahren. Die Fahrerin winkte ihm grüßend zu. Es dauerte eine Sekunde, bis Pascal sie erkannte. Es war das grünäugige Gartenmädchen. Er winkte zurück. Als sie vorbei war, schaute er ihr hinterher. Sie bog auf den Parkplatz des Supermarktes ein.
Pascal überlegte, umzukehren. Er konnte sagen, er habe etwas vergessen und müsse deswegen nochmal zurück in den Markt. Aber das war ein wenig zu auffällig, fand er. Wie sähe das denn aus? Er beschloss, es bleiben zu lassen. Stattdessen würde er in den nächsten Tagen immer wieder mit dem Auto zum Supermarkt fahren. Schließlich brauchte er Vorräte. Einen Kasten Mineralwasser. Zwei Sechserpacks Cola Light. Zucker. Mehl. Jede Menge Sachen. Vielleicht würde er das hübsche Mädchen mit den grünen Augen zufällig treffen. Dann konnte man weitersehen.
Plötzlich war Pascal in Bestlaune. Das kleine komische Gefühl in seiner Magengegend löste sich auf. Er schritt frohgemut aus. Mit weitausholenden federnden Schritten ging er die Straße entlang. Er fand, dass der Tag schön war. So richtig schön.

05.10.2024 09:44 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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